»Das meiste davon habe ich erledigt, als du beim Essen warst, weißt du, aber ein paar Sachen sind noch übrig, ein paar lose Enden.«
Die Erklärung des kleinen Mannes machte Simon kein bißchen schlauer, aber es war in so kurzer Zeit so vieles geschehen, daß selbst seine ungeduldige Natur fürs erste zufriedengestellt war. Er nickte und baumelte weiter mit den Beinen.
»So, ich glaube, das ist alles, was ich heute abend tun kann«, erklärte Morgenes endlich. »Du solltest lieber zurück und ins Bett gehen. Komm morgen früh wieder her, vielleicht gleich, nachdem du mit deinen Arbeiten drüben fertig bist.«
»Arbeiten?« Simon schnappte nach Luft. »Arbeiten? Morgen?«
»Aber natürlich«, knurrte der Doktor bissig. »Du glaubst doch nicht, daß ein Wunder geschieht, oder? Meinst du denn, der König würde sich hinstellen und verkünden: ›Ach, übrigens ist gestern mein Bruder aus dem Verlies entkommen, darum nehmen wir uns heute alle einen Tag frei und schauen nach, wo er geblieben ist‹ – das glaubst du doch wohl selber nicht, hm?«
»Nein, ich…«
»Und du würdest doch ganz bestimmt nicht sagen: ›Rachel, ich kann meine Arbeit nicht machen, weil Morgenes und ich auf Hochverrat sinnen‹ – oder hast du das vor?«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Gut. Dann wirst du deine Aufgaben erfüllen und so schnell wie möglich wieder herkommen, und dann werden wir die Lage prüfen. Es ist alles viel gefährlicher, als du begreifst, Simon, aber ich fürchte, du steckst jetzt mittendrin, im Guten wie im Bösen. Und ich hatte gehofft, dich aus allem heraushalten zu können…«
»Woraus? Mittendrin in was, Doktor?«
»Laß gut sein, Junge. Hast du denn immer noch nicht genug? Ich werde morgen versuchen, dir alles zu erklären, was du ohne Schaden wissen darfst, aber die Steinigungsnacht ist nicht die beste Gelegenheit, von Dingen zu reden wie –«
Ein lautes Hämmern an der Außentür schnitt Morgenes das Wort ab. Sekundenlang starrten Simon und der Doktor einander an. Nach einer Pause klopfte es von neuem.
»Wer ist da?« rief Morgenes mit so ruhiger Stimme, daß Simon ihn noch einmal anschauen mußte, um die Furcht im Gesicht des kleinen Mannes zu bemerken.
»Inch«, kam die Antwort. Morgenes entspannte sich sichtlich.
»Geh fort«, erwiderte er. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich dich heute abend nicht brauche.«
Kurzes Schweigen. »Doktor«, flüsterte Simon, »ich glaube, ich habe Inch vorhin gesehen…«
Wieder die monotone Stimme. »Ich denke, daß ich etwas vergessen habe … in Eurem Zimmer vergessen, Doktor.«
»Komm ein andermal wieder und hol es dir«, rief Morgenes, und diesmal war seine Verärgerung echt. »Ich habe jetzt viel zu viel zu tun, als daß ich mich stören lassen könnte.«
Simon versuchte es noch einmal. »Ich glaube, ich habe ihn gesehen, als ich den-«
»Öffnet sofort die Tür – im Namen des Königs!«
Simon fühlte kalte Verzweiflung nach seinem Magen greifen: Die neue Stimme gehörte nicht Inch.
»Beim Niederen Krokodil!« schwor Morgenes in leiser Verwunderung. »Der kuhäugige Dummkopf hat uns verraten. Ich hätte nicht gedacht, daß er den Verstand dazu besitzt. Ich will jetzt nicht gestört werden!« brüllte er plötzlich, sprang zu dem langen Tisch hinüber und strengte sich an, ihn vor die verriegelte Innentür zu schieben. »Ich bin ein alter Mann und brauche meine Ruhe!« Simon war mit einem Satz neben ihm und half. In ihm mischte sich Entsetzen mit einer unerklärlich aufflackernden, fast freudigen Erregung.
Draußen aus dem Gang rief eine dritte Stimme, eine grausame, heisere Stimme: »Allerdings wird deine Ruhe lange dauern, alter Mann.« Simon stolperte und wäre fast gestürzt, als seine Knie unter ihm nachgaben. Pryrates!
Ein schreckliches, knirschendes Geräusch hallte durch den inneren Gang, während Simon und der Doktor es endlich schafften, den schweren Tisch vor die Tür zu rücken. »Äxte«, sagte Morgenes und sprang auf der Suche nach irgend etwas um den Tisch herum.
»Doktor!« zischte Simon und hüpfte vor Angst auf und nieder. Von draußen hörte man das Echo splitternden Holzes. »Was können wir tun?« Er wirbelte herum und sah sich einem aberwitzigen Schauspiel gegenüber.
Morgenes kniete geduckt auf der Tischplatte, neben sich einen Gegenstand, den Simon gleich darauf als Vogelkäfig erkannte. Der Doktor hatte das Gesicht eng an die Gitterstäbe gedrückt. Er gurrte und murmelte den Tieren zu, während Simon schon hörte, wie die äußere Tür zusammenbrach.
»Was tut Ihr?« keuchte Simon. Morgenes hopste vom Tisch, den Käfig im Arm, und trabte quer durch den Raum zum Fenster. Bei Simons Aufjaulen drehte er sich um, betrachtete gelassen den verstörten Jungen, lächelte dann traurig und schüttelte den Kopf.
»Ja, natürlich, Junge«, sagte er, »ich muß mich auch um dich kümmern, weil ich es deinem Vater versprochen habe. Wie wenig Zeit uns doch vergönnt war!« Er setzte den Käfig ab, rannte wieder zum Tisch und wühlte in dem Durcheinander herum. Die Zimmertür begann unter der Wucht schwerer Schläge zu erbeben. Man hörte rauhe Stimmen und das Klirren gepanzerter Männer. Morgenes fand, was er suchte, ein Holzkästchen, und kippte es um, wobei etwas golden Glänzendes in seine Hand fiel. Er wollte wieder zum Fenster, blieb dann aber stehen und fischte noch einen Stapel dünner Pergamente aus dem Chaos auf dem Tisch.
»Nimm das mit, bitte«, sagte er und reichte Simon das Bündel, worauf er wieder ans Fenster eilte. »Es ist mein ›Leben König Johan Presbyters‹, und ich gönne Pryrates das Vergnügen nicht, Kritik daran zu üben.« Entgeistert nahm Simon die Papiere und stopfte sie unter dem Hemd ins Gürtelband. Der Doktor griff in den Käfig und holte einen der kleinen Bewohner heraus, den er in der hohlen Hand barg. Es war ein winziger, silbergrauer Sperling. Simon sah in sprachloser Verwunderung zu, wie der Doktor mit einem Stückchen Bindfaden ruhig das glänzende Schmuckstück – einen Ring? – an das Sperlingsbein schnürte. Am anderen Bein war bereits ein ganz schmaler Pergamentstreifen befestigt. »Sei stark mit deiner schweren Bürde«, sagte Morgenes leise und schien mit dem Vogel zu sprechen.
Genau über dem Riegel brach eine Axtschneide durch die schwere Tür. Morgenes bückte sich, hob einen langen Stock vom Boden auf und zerschlug das Oberlicht. Dann setzte er den Sperling aufs Fensterbrett und ließ ihn los. Der Vogel hüpfte einen Augenblick am Rahmen entlang, schwang sich dann in die Lüfte und verschwand im Abendhimmel. Auf die gleiche Art befreite der Doktor noch fünf weitere Sperlinge, bis der Käfig leer war.
Aus dem Mittelstück der Tür hatten die Äxte ein großes Stück herausgebissen. Dahinter konnte Simon die zornigen Gesichter und das grelle Fackellicht sehen.
Der Doktor winkte ihm. »Der Tunnel, Junge, schnell jetzt!« Hinter ihnen riß ein weiteres zerfetztes Holzstück ab und polterte krachend zu Boden. Die beiden rannten durch das Zimmer. Der Doktor drückte Simon etwas Kleines und Rundes in die Hand.
»Reib das, dann hast du Licht!« sagte er, »es ist besser als eine Fackel!« Er riß den Vorhang zur Seite und zerrte die Tür auf. »Nun los und beeil dich! Such die Tan'ja-Treppe, dort geht es nach oben!« Als Simon in die Mündung des Ganges hineinsprang, sackte die große Tür in den Angeln und brach zusammen. Morgenes wandte sich um.
»Aber Doktor!« schrie Simon. »Kommt mit! Wir können zusammen entkommen!« Der Doktor sah ihn an und schüttelte lächelnd den Kopf. Mit dem lauten Klirren zerbrechenden Glases kippte der vor die Tür geschobene Tisch um, und ein Trupp Bewaffneter in Grün und Gelb drängte sich in den Raum. Inmitten der Erkyngarde stand geduckt wie eine Kröte in einem Garten aus Schwertern und Äxten Breyugar, der oberste der Wachen. Im von Splittern übersäten Gang war Inchs massige Gestalt zu erkennen; hinter ihm blitzte scharlachrot Pryrates' Mantel.