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»Geht weg«, sagte sie in ärgerlichem Ton.

»Ich bin es … Simon!« rief der Junge und klopfte nochmals. Diesmal gab es eine längere Pause, gefolgt vom Geräusch schneller Schritte. Die Tür schwang auf, und Morgenes, dessen Kopf kaum bis an Simons Kinn reichte, stand vor ihm. Sein Gesicht lag im Dunkeln; sekundenlang schien er starr vor sich hinzuglotzen.

»Was?« fragte er endlich. »Wer?«

Simon lachte. »Na, ich natürlich. Möchtet Ihr ein paar Frösche?« Er zog einen der Gefangenen aus seinem Verlies und hielt ihn an einem glibbrigen Bein in die Höhe.

»Oh, oh!« Der Doktor schien wie aus tiefem Schlaf zu erwachen. Er schüttelte den Kopf. »Simon … aber natürlich! Komm herein, Junge! Du mußt mich entschuldigen – ich bin ein wenig zerstreut.« Er öffnete die Tür so weit, daß Simon an ihm vorbei in den schmalen Innengang schlüpfen konnte, und schloß sie dann wieder.

»Frösche, wie? Hmmmm, Frösche…« Morgenes stakste den Korridor hinunter. Im Glühen der blauen Lampen, die den Gang säumten, schien die dürre Gestalt des Doktors wie ein Affe zu hüpfen anstatt zu gehen. Simon, dessen Schultern die kalten Wände zu beiden Seiten fast berührten, folgte. Er hatte noch nie verstehen können, wie Räumlichkeiten, die von außen so klein wirkten wie die des Doktors – und er hatte von den Mauern des Zwingers auf sie hinabgeschaut und war im Hof ihre Ausdehnung abgegangen –, wie so eine kleine Wohnung derart lange Korridore haben konnte.

Simons Gedankengänge wurden von einem plötzlichen Höllenlärm unterbrochen: Pfiffe, Knaller und etwas, das wie das hungrige Gebell von hundert Hunden klang.

Morgenes machte einen überraschten Satz und sagte: »O Name eines Namens, ich habe vergessen, die Kerzen zu löschen. Warte hier.« Mit flatternden weißen Haarsträhnen rannte der kleine Mann den Gang hinunter, öffnete die Tür am Ende einen winzigen Spalt – das Heulen und Pfeifen schwoll an – und huschte schnell hinein. Simon vernahm einen erstickten Ausruf.

Jäh verstummte der entsetzliche Lärm – so schnell und vollständig, als ob … als ob man eine Kerze auslöscht, dachte Simon.

Der Doktor streckte den Kopf heraus, lächelte und winkte den Jungen herein.

Simon, der schon früher Szenen dieser Art erlebt hatte, folgte dem alten Mann vorsichtig in dessen Werkstatt. Ein hastiges Eintreten konnte – und das war noch das Wenigste – bedeuten, daß man auf irgend etwas Sonderbares trat, dessen Anblick Unbehagen bereitete.

Von den Urhebern des gräßlichen Geheuls von eben war keine Spur mehr zu erkennen. Wieder staunte Simon über den Unterschied zwischen dem, was Morgenes' Wohnung zu sein schien – eine umgebaute Wachkaserne von vielleicht zwanzig Schritt Länge, an die efeuüberwucherte Mauer der Nordostecke des Mittleren Zwingers geduckt –, und ihrem Anblick von innen, der ein weitläufiges Zimmer offenbarte, das zwar eine niedrige Decke hatte, aber beinahe so lang wie ein Turnierplatz war, wenn auch weit schmaler. Im orangefarbenen Licht, das durch die lange Reihe kleiner Fenster zum Hof hereinsickerte, spähte Simon nach dem hintersten Ende des Raumes und stellte fest, daß er große Mühe haben würde, es von der Tür aus, in der er stand, mit einem Stein zu treffen.

Aber dieser merkwürdige Dehneffekt war ihm durchaus vertraut. Tatsächlich sah das ganze Zimmer trotz der angsteinflößenden Geräusche eigentlich aus wie immer – so als hätte eine Horde geistesgestörter Krämer ihre Verkaufstische aufgebaut und dann mitten in einem wilden Sturmwind jäh die Flucht ergriffen. Der große Refektoriumstisch, der sich über die ganze Länge der einen Wand ausdehnte, war übersät mit Rillenglasröhren, Kästen und Tuchbeuteln mit Pulvern und stechenden Salzen sowie mit komplizierten Konstruktionen aus Holz und Metall, an denen Retorten und Phiolen und andere undefinierbare Behälter hingen. Den Mittelpunkt des Tisches bildete eine gewaltige Messingkugel, aus deren glänzender Oberfläche winzige, eckige Hähne hervorragten. Sie schien in einer Schüssel mit silbriger Flüssigkeit zu schwimmen, und Schüssel und Kugel balancierten auf der Spitze eines Dreifußes aus geschnitztem Elfenbein. Aus den Hähnen pustete Dampf, und der Messingball drehte sich langsam um sich selbst.

Auf Fußboden und Wandregalen wimmelte es von noch seltsameren Dingen. Polierte Steinblöcke, Kehrbesen und lederne Schwingen lagen auf den steinernen Platten verstreut und machten sich mit Tierkäfigen, teils leer, teils besetzt, den Platz streitig, mit Metallgerüsten unbekannter Geschöpfe, mit zerrupften Pelzen oder nicht zusammenpassenden Federn bedeckt, mit Platten aus scheinbar klarem Kristall, wahllos an den mit Gobelins verzierten Wänden aufgestapelt … und mit Büchern, überall mit Büchern, halb geöffnet fallengelassen oder hier und da im Zimmer aufgestellt wie riesenhafte, plumpe Schmetterlinge.

Es gab auch Glaskugeln mit farbigen Flüssigkeiten, die ohne Hitze vor sich hin blubberten, und eine flache Schachtel mit glitzerndem schwarzem Sand, der sich unaufhörlich neu formte, als fegten ihn unmerkliche Wüstenwinde. Von Zeit zu Zeit würgten hölzerne Wandschränkchen bemalte Holzvögel hervor, die unverschämt piepten und wieder verschwanden. Daneben hingen Karten von Ländern mit gänzlich fremdartiger Geographie – obwohl Geographie zugegebenermaßen ein Gebiet war, auf dem sich Simon ohnehin nicht sonderlich sicher fühlte. Alles in allem war die Höhle des Doktors ein Paradies für einen wißbegierigen jungen Mann … ganz ohne Zweifel der wunderbarste Ort in ganz Osten Ard.

Morgenes war inzwischen am anderen Ende des Raumes unter einer schlaff herabhängenden Sternkarte auf und ab gewandert. Sie verband die hellen Himmelspunkte durch eine gemalte Linie, so daß die Gestalt eines seltsamen Vogels mit vier Flügeln entstand. Mit einem kleinen triumphierenden Pfiff beugte der Doktor sich plötzlich nach unten und fing an zu graben wie ein Eichhörnchen im Frühling. Hinter ihm erhob sich ein Schneegestöber aus Schriftrollen, buntbemalten Lappen, Miniaturgeschirr und winzigen Pokalen von irgendeinem Zwergen-Abendbrottisch. Endlich richtete er sich wieder auf, wuchtete einen großen Kasten mit Glaswänden in die Höhe, watete zum Tisch, stellte den Glaswürfel hin und griff sich, offenbar wahllos, von einem Gestell ein Flaschenpaar.

Die Flüssigkeit in der einen hatte die Farbe des Sonnenuntergangshimmels draußen; sie schmauchte wie ein Weihrauchfäßchen. Die andere Flasche war mit etwas Blauem und Zähflüssigem gefüllt, das, als Morgenes die beiden Flaschen umdrehte, ganz, ganz langsam in den Kasten rann. Als sie sich vermischten, wurden die beiden Flüssigkeiten so klar wie Bergluft. Der Doktor breitete seine Arme aus wie ein fahrender Künstler. Einen Augenblick herrschte Stille.

»Frösche?« fragte er dann und wedelte mit den Fingern. Simon sprang herbei und zog die beiden Tiere, die gefangen in seinen Manteltaschen steckten, hervor. Der Doktor ergriff sie und warf sie mit schwungvoller Gebärde in das Aquarium. Die beiden verblüfften Amphibien plumpsten in die durchsichtige Flüssigkeit, sanken langsam auf den Grund und begannen dann energisch in ihrem neuen Heim umherzuschwimmen. Simon lachte erstaunt und erheitert.

»Ist das Wasser?«

Der alte Mann drehte sich um und blickte ihn mit hellen Augen an. »Mehr oder weniger, mehr oder weniger … so!« Morgenes fuhr sich mit langen, verkrümmten Fingern durch den schütteren Bartkranz. »Soso … hab Dank für die Frösche. Ich glaube, ich weiß schon, was ich mit ihnen anfange. Völlig schmerzlos. Vielleicht macht es ihnen sogar Spaß, obwohl ich nicht glaube, daß sie die Stiefel gern anziehen werden.«

»Stiefel?« wunderte sich Simon, aber der Doktor wuselte schon wieder im Zimmer herum. Jetzt schob er einen Stapel Landkarten von einem niedrigen Hocker und winkte Simon, sich hinzusetzen. »Nun also, junger Mann, welche Münze schulde ich dir für dein Tagwerk? Ein Fithingstück? Oder vielleicht möchtest du lieber Coccindrilis hier als Haustier?« Kichernd schwang der Doktor eine mumifizierte Eidechse.