»Halt!« donnerte eine Stimme durch den Raum – bei aller Furcht und Verwirrung brachte Simon es noch fertig, sich zu wundern, daß ein solcher Ton aus Morgenes' gebrechlichem Körper kommen konnte. Jetzt stand der Doktor vor der Erkyngarde, die Finger in seltsamer Gebärde gespreizt. Zwischen ihm und den verblüfften Soldaten begann die Luft sich zu biegen und zu schimmern. Die Substanz des Nichts schien sich unter Morgenes' Händen, die in wunderlichen Mustern tanzten, zu verfestigen. Sekundenlang beleuchteten die Fackeln die Szene vor Simons Augen, als wäre das Bild auf einem uralten Wandteppich erstarrt.
»Gott segne dich, Junge«, zischte Morgenes, »aber jetzt weg mit dir! Sofort!« Simon machte einen weiteren Schritt in den Gang hinein.
Pryrates drängte sich an der benommenen Wache vorbei, ein verschwommener roter Schatten hinter der Mauer aus Luft. Eine seiner Hände stieß vor wie ein Dolch; ein brodelndes, funkelndes Netz blauer Funken zeigte an, wo sie die dichter werdende Luft berührte. Morgenes taumelte zurück, und seine Barriere begann zu schmelzen wie eine Eisscholle. Der Doktor bückte sich und riß aus einem Gestell am Boden zwei Glaspokale.
»Haltet den Jungen!« schrie Pryrates, und plötzlich konnte Simon über dem Scharlachmantel seine Augen sehen … kalte schwarze Augen, die ihn festzuhalten schienen … ihn durchbohrten …
Die schimmernde Luftscheibe zerfloß. »Ergreift sie!« donnerte Graf Breyugar, und die Soldaten stürmten vorwärts. Simon beobachtete das Ganze mit krankhafter Faszination. Er wollte davonlaufen, konnte aber nicht, und zwischen ihm und den Schwertern der Erkyngarde stand nichts als … Morgenes.
»ENKI ANNUKHAI SHI'IGAO!« Die Stimme des Doktors dröhnte und läutete wie eine steinerne Glocke. Ein Windstoß kreischte durch das Zimmer, drückte die Fackeln nach unten und löschte sie aus. Mitten im Strudel stand Morgenes, in beiden ausgestreckten Händen einen Pokal. Im kurzen Augenblick der Verfinsterung gab es einen Knall, gefolgt von weißglühendem Auflodern, als die Glaspokale in Flammen aufgingen. Einen Herzschlag darauf rannen Feuerströme über Morgenes' Mantelärmel, und ein Heiligenschein aus knisternden Feuerzungen umgab seinen Kopf. Eine Welle furchtbarer Hitze trieb Simon zurück, als sich der Doktor noch einmal nach ihm umdrehte; schon schien sein Gesicht hinter dem Flammennebel, der es einhüllte, zu zerfließen und sich zu verwandeln.
»Geh, mein Junge«, hauchte er, und seine Stimme war wie eine Flamme. »Es ist zu spät für mich. Geh zu Josua!«
Simon, von Grauen gepackt, taumelte zurück. Die zerbrechliche Gestalt des Doktors zuckte in brennender, strahlender Helle. Morgenes fuhr herum. Er machte ein paar zögernde Schritte und warf sich dann mit ausgebreiteten Armen auf die schreienden Wachen, die einander in ihrer verzweifelten Hast, durch die zerbrochene Tür zurückzuweichen, gegenseitig über den Haufen rannten. Höllenflammen schossen aufwärts und schwärzten die ächzenden Dachbalken. Die Wände selbst begannen zu schaudern. Einen kurzen Augenblick hörte Simon die rauhe, halberstickte Stimme von Pryrates, die sich mit den Lauten von Morgenes' Todeskampf vermengte … dann gab es einen furchtbaren Lichtblitz und ein ohrenbetäubendes Brüllen. Eine Peitsche aus heißer Luft schleuderte Simon den Gang hinunter und schlug mit einem Krachen wie vom Hammer des Jüngsten Gerichts die Tür hinter ihm zu. Ganz benommen vernahm er nicht das mahlende, splitternde Aufschreien des zusammenstürzenden Balkendachs. Die Tür, mit vielen Tausendlasten Steinen und versengter Eiche verkeilt, erschauerte in ihren Grundfesten.
Lange Zeit lag er da, vom Schluchzen geschüttelt, die Tränen in seinen Augen von der Hitze getrocknet. Schließlich erhob er sich mühsam. Mit den Händen ertastete er die warme Steinwand und stolperte in die Dunkelheit hinein.
XIII
Zwischenwelten
Stimmen, viele Stimmen – Simon konnte nicht sagen, ob sein Kopf sie hervorgebracht hatte oder die trostlose Finsternis ringsum – Stimmen waren in dieser ersten entsetzlichen Stunde seine einzigen Gefährten.
Simon Mondkalb! Schon wieder in der Patsche, Simon Mondkalb!
Sein Freund ist tot, sein einziger Freund, seid nett zu ihm, seid nett!
Wo sind wir?
In Finsternis, auf ewig in Finsternis, fledermausflatternd durch die endlosen Tunnel wie eine verlorene, schreiende Seele …
Simon Pilgrim ist er jetzt, verurteilt zum Wandern, zum Wundern …
Nein, schauderte Simon und versuchte die schreienden Stimmen zu bändigen, ich will mich erinnern. Ich will mich an die rote Linie auf der alten Karte erinnern und die Tan'ja'Treppe suchen, was immer sie auch sein mag. Ich will mich an die schwarzen Augen des Mörders Pryrates erinnern … und an meinen Freund … meinen Doktor Morgenes.
Er sank auf dem sandigen Tunnelboden zusammen und weinte vor hilflosem, ohnmächtigem Zorn, ein kaum noch klopfendes Lebensherz in einem Universum aus schwarzem Stein. Die Schwärze legte sich wie etwas Erstickendes auf ihn, das den Atem aus ihm herausquetschte.
Warum hat er es getan? Warum ist er nicht geflohen?
Er starb, um dich zu retten – dich und Josua. Wäre er geflohen, hätte man ihn verfolgt – Pryrates' Zauber war stärker. Man hätte euch gefangengenommen, und sie hätten ungehindert dem Prinzen nachjagen, ihn hetzen und in seine Zelle zurückschleppen können. Deshalb ist Morgenes gestorben.
Simon haßte die Laute seines eigenen Weinens, dieses abgehackte, schnüffelnde Geräusch, dessen Echo nicht enden wollte. Er preßte alles aus sich heraus, schluchzte, bis seine Stimme nur noch ein trockenes Rasseln war – ein Ton, mit dem er leben konnte, nicht das weinerliche Blöken eines verirrten Mondkalbs im Dunkeln.
Ihm war schwindlig und übel. Er wischte sich mit dem Hemdsärmel das Gesicht ab und fühlte plötzlich das Gewicht von Morgenes' Kristallkugel in seiner Hand. Der Doktor hatte ihn mit Licht versorgt! Das und die Papiere, unbequem ins Gürtelband von Simons Hosen gestopft, waren sein letztes Geschenk.
Nein, flüsterte eine Stimme, das vorletzte, Simon Pilgrim.
Simon schüttelte den Kopf, um die leckende, murmelnde Angst zu verscheuchen. Was hatte Morgenes gesagt, als er das glitzernde Schmuckstück ans dünne Sperlingsbein band? Sei stark mit deiner schweren Bürde? Warum saß er hier in der Pechfinsternis, winselnd und sabbernd – war er nicht schließlich Morgenes' Lehrling?
Benommen und zitternd kam er auf die Füße. Unter seinen streichelnden Fingern spürte er die Glasoberfläche des Kristalls warm werden. Er starrte ins Dunkle, dorthin, wo seine Hände sein mußten, und dachte an den Doktor. Wie hatte der alte Mann so häufig lachen können, wo doch die Welt so voll verborgenen Verrates war, voll schöner Dinge, aber innerlich verfault? Es gab so viele Schatten, so wenig …
Vor ihm blitzte ein Nadelstich aus Licht auf – ein Nadelloch im Vorhang der Nacht, der wie ein Leichentuch die Sonne verhüllte. Er rieb fester und riß die Augen auf. Das Licht blühte auf und schlug die Schatten zurück; auf beiden Seiten sprangen die Wände des Ganges hervor, mit glühendem Bernstein überpinselt. Luft schien in seine Lungen zu schießen. Er konnte sehen!
Der momentane Auftrieb verging, als er sich umdrehte, um den Gang in beide Richtungen zu überschauen. Kopfschmerz ließ die Wände vor seinen Augen verschwimmen. Der Tunnel war fast ohne jedes Merkmal, ein einsames Loch, das sich tief in die Unterseite der Burg grub, bekränzt mit bleichen Spinnweb-Girlanden. Weiter oben im Gang bemerkte er eine Kreuzung, die er schon passiert hatte, einen in der Wand gähnenden Schlund. Er ging zurück. Ein schnelles Hineinleuchten mit dem Kristall zeigte hinter der Öffnung nur Mauerstücke und Geröll, eine schräge Abfallhalde, die aus der Reichweite des dünnen Kugellichtes hinausführte. Wieviel weitere Kreuzwege hatte er schon verpaßt? Und woher sollte er wissen, welche die richtigen waren? Eine neue Welle würgender Hoffnungslosigkeit überflutete Simon. Er war hoffnungslos allein, hoffnungslos verirrt. Nie würde er sich in die Welt des Lichtes zurückfinden.