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Simon Pilgrim, Simon Mondkalb … Familie tot, Freund tot … seht ihn wandern und wandern … auf ewig…

»Ruhe!« knurrte er laut und hörte erschreckt, wie das Wort vor ihm den Weg hinunterrollte, ein Bote mit einer Bekanntmachung des Königs-unterder-Erde: »Ruhe … Ruhe … Ru…«

König Simon von den Tunneln begann seinen stolpernden Vormarsch.

Der Gang wand sich abwärts ins steinerne Herz des Hochhorstes, ein erstickender, krummer, spinnwebbedeckter Pfad, nur erhellt vom Glanz der Kristallkugel, die Morgenes gehört hatte. Dort, wo Simon vorübergegangen war, führten zerrissene Spinnennetze einen langsamen, gespenstischen Tanz auf; wenn er sich umsah, schienen die Fäden ihm nachzuwinken wie die klammernden, knochenlosen Finger von Ertrunkenen. Strähnen von Seidenfäden hingen ihm im Haar und legten sich klebrig über sein Gesicht, so daß er beim Gehen die Hand vor die Augen halten mußte. Oft fühlte er, wie etwas Kleines, Vielbeiniges durch seine Finger davonhuschte, wenn er durch ein Netz brach. Dann mußte er einen Augenblick mit gesenktem Kopf innehalten, bis das Zittern des Ekels nachließ, das ihn überfiel.

Nach und nach wurde es kälter, und die Gangwände schienen Feuchtigkeit auszuatmen. Ein Teil des Tunnels war eingestürzt; an manchen Stellen lagen heruntergefallene Erde und Steine so hoch in der Mitte des Pfades aufgehäuft, daß er sich, den Rücken an die feuchten Wände gepreßt, mühsam daran vorbeischieben mußte.

Genau das tat er – sich an einem Hindernis vorbeizwängen, die lichtspendende Hand über dem Kopf gehalten, mit der anderen vor sich nach dem Weg tastend –, als er einen stechenden Schmerz fühlte. Wie mit tausend Nadelstichen schoß es ihm die suchende Hand und den Arm hinauf. Ein Aufblitzen des Kristalls zeigte Simon eine Vision des Grauens: Hunderte, nein, Tausende winziger weißer Spinnen, die über seine Hand schwärmten, in seinen Hemdsärmel quollen und bissen wie tausend brennende Feuer. Simon kreischte auf und schlug den Arm gegen die Tunnelwand. Ein Regen aus Erdklumpen ergoß sich in seinen Mund und die Augen. Seine Schreckensschreie hallten im Gang wider und verstummten schnell. Auf dem feuchten Boden sank er in die Knie und klatschte den stechenden Arm immer wieder auf die Erde, bis der brennende Schmerz allmählich nachließ. Dann kroch er auf Händen und Knien vorwärts, fort von dem scheußlichen Nest oder Brutplatz, dessen Ruhe er gestört hatte. Während er sich duckte und mit loser Erde wie wahnsinnig den Arm abrieb, kamen ihm von neuem die Tränen und schüttelten ihn, als würde er ausgepeitscht.

Als er es über sich brachte, einen Blick auf seinen Arm zu werfen, zeigte das Licht des Kristalls unter dem Schmutz nur Rötungen und Schwellungen statt der blutigen Wunden, die er mit Bestimmtheit erwartet hatte. Der Arm pochte, und Simon fragte sich benommen, ob die Spinnen wohl giftig gewesen waren – und das Schlimmste noch kommen würde. Als er merkte, daß ihm von neuem das Schluchzen in die Brust stieg und ihm den Atem rauben wollte, zwang er sich zum Aufstehen. Er mußte weiter. Er mußte.

Tausend weiße Spinnen.

Er mußte weiter.

Im trüben Licht der Kugel ging es stetig nach unten. Es glänzte auf von Feuchtigkeit schlüpfrigen Steinen und von Erde erstickten Quergängen, durch die sich bleiche Wurzeln schlängelten. Bestimmt mußte er sich inzwischen tief unter der Burg befinden – tief unten in der schwarzen Erde. Nichts deutete darauf hin, daß Josua oder sonst jemand hier vorbeigekommen waren. Simon war bis zur Übelkeit klar, daß er in der Dunkelheit und in seiner Verwirrung irgendeine Abzweigung verpaßt haben mußte und sich nun wie auf einer Wendeltreppe in einen Abgrund hinabbewegte, aus dem es kein Entkommen gab.

Er war schon so lange weitergestapft, so vielen Kehren und Windungen gefolgt, daß der Gedanke an die schmale rote Linie auf Morgenes' altem Pergament längst seinen Sinn verloren hatte. In diesen engen Wurmlöchern, die einem die Luft abschnürten, gab es nichts, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Treppe besaß. Selbst der glühende Kristall begann langsam zu flackern. Erneut verlor Simon die Kontrolle über die Stimmen, die ihn in den irren Schatten umzingelten wie eine grölende Menge.

Dunkel, und es wird immer dunkler. Dunkel, und es wird immer, immer dunkler.

Legen wir uns doch ein bißchen hin. Wir wollen schlafen, nur eine kleine Weile, schlafen…

Der König hat ein Tier in sich, und Pryrates ist sein Wärter …

»Gott segne dich, Junge«, hat Morgenes zu dir gesagt. Er kannte deinen Vater. Er bewahrte Geheimnisse.

Josua geht nach Naglimund. Dort scheint Tag und Nacht die Sonne. In Naglimund essen sie süßen Rahm und trinken klares, leuchtendes Wasser.

Die Sonne ist hell. Hell und heiß. Es ist heiß. Warum?

Der feuchte Tunnel war plötzlich sehr warm. Simon stolperte weiter, hoffnungslos überzeugt davon, daß es das erste Fieber des Spinnengiftes war, das er jetzt spürte. Er würde in der Dunkelheit sterben, der schrecklichen Dunkelheit. Nie wieder würde er die Sonne sehen, nie wieder ihr…

Die Wärme schien sich in seine Lungen zu drängen. Es wurde tatsächlich heißer!

Stickige Luft umfloß ihn, klebte ihm das Hemd an die Brust und die Haare an die Stirn. Einen Augenblick durchzuckte ihn noch stärkere Panik.

Bin ich im Kreis gelaufen? Bin ich stundenlang weitergelaufen, nur um wieder vor den Ruinen von Morgenes' Zimmer zu stehen, vor den verbrannten, schwarzverkohlten Resten seines Daseins?

Aber das war nicht möglich. Er war ständig abwärts gegangen und nie weiter nach oben gestiegen, als für einen Augenblick ebenen Gehens erforderlich. Warum war es dann so heiß?

In ihm stieg unwiderstehlich die Erinnerung an eine von Shem Pferdeknechts Geschichten auf, eine Erzählung vom jungen Priester Johan, der durch die Finsternis auf eine ungeheure, brütende Hitze zuwanderte – auf den Drachen Shurakai in seiner Höhle unter der Burg … dieser Burg.

Aber der Drache ist tot! Ich habe seine Knochen berührt, einen gelben Sessel im Thronsaal. Es gibt keinen Drachen mehr – kein schlafloses, tiefatmendes rotes Ungetüm von der Größe des Turnierplatzes, das mit Klauen wie Schwertern und einer Seele, so alt wie die Steine von Osten Ard, in der Dunkelheit lauert – der Drache ist tot.

Aber hatten Drachen denn keine Brüder? Und was war das für ein Geräusch? Dieses dumpfe, grollende Brüllen?

Die Hitze war drückend, die Luft dick von beißendem Rauch. Simons Herz lag wie ein stumpfer Bleiklumpen in seiner Brust. Der Kristall begann zu verblassen, als breite Streifen rötlichen Lichts das schwächere Strahlen der Kugel auslöschten. Der Tunnel wurde flach, krümmte sich jetzt weder nach rechts noch nach links, sondern führte über eine lange, verwitterte Galerie zu einem gewölbten Türbogen hinunter, in dem ein flackernder, orangeroter Schein tanzte. Obwohl ihm der Schweiß das Gesicht hinunterlief, fing Simon an zu zittern. Die Tür zog ihn magisch an.

Dreh dich um und lauf, Mondkalb!

Er konnte nicht. Jeder Schritt kostete Mühe, aber er kam näher. Endlich hatte er den Bogen erreicht und steckte ängstlich den Kopf durch den Rahmen des Portals.

Es war eine riesige Höhle, in zuckendes Licht getaucht. Die Felswände schienen geschmolzen zu sein und sich dann abgesetzt zu haben wie Wachs am Fuß einer Kerze, der Stein in langen, senkrechten Tropfrinnen geglättet. Sekundenlang weiteten sich Simons vom Licht geblendeten Augen vor Staunen: am anderen Ende der Höhle kniete über ein Dutzend schwarzer Gestalten vor der Gestalt … eines ungeheuren feuerspeienden Drachen!