Die Wand unter dem Moos war mit einer Art Kacheln verkleidet, an vielen Stellen abgesplittert und rissig, an anderen gänzlich verschwunden, so daß die stumpfe Erde zu sehen war. Hinter ihm führte der Tunnel abwärts. Die ausgetretene Spur, in der er gekommen war, endete dort, wo er stand. Vor ihm führte der Weg weiter ins Dunkle. Er würde versuchen, eine Weile aufrecht weiterzugehen.
Bald weitete sich der Gang. Die gewölbten Eingänge zu Dutzenden anderer Korridore mündeten auf den Gang, in dem er sich fortbewegte. Meist waren sie mit Erde und Steinen angefüllt. Bald gab es auch Steinplatten unter seinen unsicheren Füßen, unebene, zerbrochene Steine, in denen sich das Licht der Kugel seltsam schillernd widerspiegelte. Nach und nach hob sich die Decke über ihm aus der Reichweite des blauen Lichtes. Und immer noch führte der Gang tiefer in die Erde hinein. Über ihm in der Leere flatterte etwas, das wie der Flügelschlag ledriger Schwingen klang.
Wo bin ich jetzt? Kann der Hochhorst so tief hinabreichen? Der Doktor hat von Burgen unter Burgen erzählt, bis ganz unten im Gebein der Welt. Burgen unter Burgen … unter Burgen…
Ohne es zu merken, hatte er angehalten und sich einem der Quergänge zugewendet. Irgendwo in seinem Kopf sah er sich selbst und was für ein Bild er abgeben mußte: zerlumpt, mit Erde verschmiert und mit dem Kopf wackelnd wie ein Blödsinniger.
Die Öffnung vor ihm war unversperrt. Ein eigenartiger Duft nach getrockneten Blumen schwebte in dem dunklen Bogen. Simon machte einen Schritt vorwärts und fuhr sich mit dem Arm, der sich wie schweres, nutzloses Fleisch anfühlte, über den Mund. Mit der anderen Hand hielt er die Kristallkugel in die Höhe.
… Wunderbar! Ein wunderbarer Ort!
Es war ein Zimmer, vollkommen im blauen Schein, so vollkommen, als sei es eben erst verlassen worden. Die hochgewölbte Decke zierte ein Gitterwerk feingemalter Linien, ein Muster, das an ein Dornengebüsch erinnerte, an blühende Ranken oder ein Labyrinth aus tausend Wiesenbächen. Die runden Fenster waren unter Geröll begraben; Erde war hereingefallen und auf den Fliesenboden gerieselt. Alles andere jedoch schien unberührt. Ein Bett stand dort – ein Wunder aus kunstvoll geschwungenem Holz – und ein Stuhl, so fein wie Vogelknochen. Mitten im Raum gab es ein Wasserbecken aus poliertem Stein, das aussah, als könnte es sich jeden Augenblick mit plätscherndem Naß füllen.
Ein Heim für mich. Ein Zuhause unter der Erde. Ein Bett zum Schlafen, zum Schlafen und immer noch Schlafen, bis Pryrates und der König und die Soldaten alle nicht mehr da sind…
Ein paar schleppende Schritte, und er stand vor dem Bett, einem Lager so rein und fleckenlos wie die Segel der Gesegneten. Aus einer Nische darüber starrte ein Gesicht auf ihn herunter, das herrliche, kluge Frauengesicht eines Standbildes. Aber irgend etwas stimmte nicht daran: Die Linien waren zu eckig, die Augen zu tiefliegend und weit, die Backenknochen hoch und scharf. Trotzdem war es ein Antlitz von großer Schönheit, eingefangen in durchsichtigem Stein, für immer in traurigem, wissendem Lächeln erstarrt.
Als er die Hand ausstreckte, um ganz sanft die gemeißelte Wange zu berühren, stieß er mit dem Schienbein gegen den Bettrahmen, eine Berührung, so leicht wie ein Spinnenschritt, doch – das Bett zerfiel zu Staub. Gleich darauf, während er es noch voller Grauen anstarrte, löste sich die Büste in der Nische unter seinen Fingerspitzen in feine Asche auf. In einem einzigen Augenblick schmolzen die Züge der Frau. Simon machte einen ungeschickten Schritt zurück, das Licht der Kugel flackerte grell auf und verlosch dann bis auf ein trübes Glänzen. Der Aufprall seines Fußes auf dem Boden ließ den Stuhl und den zierlichen Brunnen zusammenfallen, Sekunden später begann auch die Decke herunterzurieseln, und die verschlungenen Zweige zerbröckelten zu feinem Staub. Die Kugel flackerte, als Simon auf die Tür zutaumelte, und als er mit einem Satz in den Gang hinaussprang, erlöschte das blaue Licht langsam.
Wieder stand er im Dunkeln. Er hörte jemanden weinen. Nach einer langen Minute setzte er sich stolpernd wieder in Bewegung, tiefer hinein in die unendlichen Schatten, und er wunderte sich, wer da noch Tränen übrig haben konnte und sie nun vergoß.
Das Vergehen der Zeit war zu etwas geworden, das nur noch aus plötzlichen Ausbrüchen und erschrecktem Zusammenfahren bestand. Irgendwo hatte Simon die erloschene Kugel fallenlassen, die nun in der ewigen Dunkelheit lag wie eine Perle in den schwärzesten Gräben des geheimen Meeres. In einem letzten gesunden Bereich seiner streunenden Gedanken, die jetzt kein Band aus Licht mehr fesselte, wußte er, daß er immer noch tiefer nach unten stieg.
Nach unten. In den Abgrund. Nach unten.
Wohin? Zu was?
Von Schatten zu Schatten, wie Küchenjungen sich immer fortbewegen.
Totes Mondkalb. Geistermondkalb…
Treiben … dahintreiben … Simon dachte an Morgenes, wie sich sein schütterer Bart in den Flammen gekräuselt hatte, dachte an den glänzenden Kometen, der rot und böse auf den Hochhorst heruntergeblickt hatte … dachte an sich selber, wie er durch die Räume aus schwarzem Nichts nach unten fiel – hinaufstieg? – wie ein kleiner, kalter Stern. Dahintreiben…
Die Leere war vollständig. Die Finsternis, zuerst nur das Fehlen von Licht und Leben, begann eigene Eigenschaften anzunehmen: enges, würgendes Dunkel, wenn die Tunnel schmaler wurden und Simon über Halden von Geröll und ineinander verstrickten Wurzeln klettern mußte; oder die hohe, luftige Dunkelheit unsichtbarer Gemächer, erfüllt vom pergamentenen Rascheln der Fledermausflügel. Während er sich den Weg durch diese riesenhaften unterirdischen Galerien ertastete und auf seine eigenen gedämpften Schritte und das zischende Herunterprasseln von Erde, die sich von den Wänden gelöst hatte, lauschte, verschwand jeder letzte Rest von Ortssinn. Nach allem, was er wußte, hätte er genausogut senkrecht die Wand hinaufgehen oder über die Decken laufen können wie eine Fliege. Es gab weder rechts noch links; wenn seine Finger wieder auf feste Wände und Türen, die in andere Tunnel führten, stießen, tastete er sich sinnlos weiter durch noch mehr beengte Durchlässe und in andere fledermausquiekende, unermeßliche Katakomben.
Geist eines Mondkalbs!
Überall roch es nach Wasser und Stein. Sein Geruchssinn und ebenso sein Gehör schienen in der blinden, schwarzen Nacht schärfer geworden zu sein, und während er sich mühsam immer weiter abwärts tastete, überschwemmten ihn die Gerüche dieser mitternächtlichen Welt – feuchte, lehmige Erde, fast so üppig wie Brotteig, und der milde und doch rauhe Duft der Felsen. Er schwamm in den bebenden, atmenden Gerüchen von Moos und Wurzeln, der geschäftigen, süßen Fäulnis winziger Wesen, die lebten und starben. Und über allem schwebte, alles durchdringend und alles komplizierend, die saure, mineralische Schärfe von Seewasser.
Seewasser? Augenlos horchte er, jagte die dröhnenden Töne des Ozeans. Wie tief war er gekommen? Alles, was er vernahm, waren die Scharrgeräusche winziger Wesen und sein eigenes, stoßweises Atmen. Hatte er sich noch unter den Grund des Kynslagh gebohrt?
Dort! Aus noch größerer Tiefe erklangen schwache, melodische Töne. Tropfendes Wasser. Die Wände waren feucht.
Du bist tot, Simon Mondkalb. Ein Geist, dazu verdammt, in einer Leere zu spuken.
Es gibt kein Licht. Nie hat es etwas Derartiges gegeben. Riechst du die Dunkelheit? Hörst du das Echo des Nichts? So war es stets.
Alles, was er noch hatte, war die Furcht, aber immerhin war das etwas – er fürchtete sich, also lebte er! Da war die Finsternis, aber da war auch Simon! Und die beiden waren nicht dasselbe. Noch nicht. Nicht ganz…
Und da, so langsam, daß er die Veränderung lange Zeit überhaupt nicht bemerkte, kam das Licht wieder. Es war ein so schwaches, trübes Licht, daß es zuerst weniger hell war als die farbigen Punkte, die vor seinen nutzlosen Augen tanzten. Dann sah er etwas Unheimliches vor sich, eine schwarze Gestalt, einen noch schwärzeren Schatten. Ein Klumpen sich windender Würmer? Nein – Finger … eine Hand … seine Hand! Vor ihm zeichneten sich ihre Umrisse ab, in matten Schein gehüllt.