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Treppe. Die Tan'ja-Treppe. Der Doktor hat gesagt, such die Treppe.

Er krallte sich fest, zog sich an dem kühlen, polierten Stein hoch und wußte, daß er unrettbar irrsinnig war oder gestorben und in einer furchtbaren Unterwelt gefangen. Er war unter der Erde, wo sie am finstersten war: Dort konnte es keine Stimmen mehr geben, keine gespenstischen Krieger. Und auch kein Licht, das die Stufen vor ihm gleißen ließ wie Alabaster im Mondschein.

Also kletterte er, schob sich mit bebenden, vor Schweiß schlüpfrigen Fingern die nächste hohe Stufe hinauf. Während er weiter nach oben stieg, manchmal stehend, manchmal geduckt, spähte er über den Rand der Stufen. Der schweigende See, ein riesiger Teich aus Schatten, lag am Grund einer gewaltigen kreisförmigen Halle, weit größer als die Gießerei. Die Decke erstreckte sich unermeßlich weit hinauf und verlor sich mit den Spitzen der schlanken, schönen weißen Säulen, die die Höhle säumten, irgendwo in der Schwärze. Ein nebliges, zielloses Licht glitzerte auf den meerblauen und jadegrünen Wänden und fing sich in den Rahmen hochgewölbter Fenster, hinter denen jetzt ein drohendes Scharlachfeuer flackerte. Inmitten der perlblassen Nebel schwebte eine dunkle, unbestimmte Gestalt über dem See. Sie warf einen Schatten aus Wunder und Entsetzen und erfüllte Simon mit unaussprechlichem, mitleidigem Schrecken.

Prinz Ineluki! Sie kommen! Die Nordmänner kommen!

Als dieser letzte leidenschaftliche Aufschrei von den dunklen Wänden in Simons Schädel widerhallte, hob die Gestalt in der Mitte der großen Halle den Kopf. Rotglühende Augen flackerten in ihrem Gesicht und durchschnitten den Nebel wie Fackeln.

Jingizu, hauchte eine Stimme. Jingizu. Soviel Leid.

Das Scharlachlicht loderte auf. Von unten stieg das Geschrei von Tod und Furcht an Simons Ohr wie eine ungeheure Welle. Und mitten darin erhob die dunkle Gestalt einen langen, schlanken Gegenstand, und die wundersame Kammer erbebte, schimmerte wie ein zerbrochenes Spiegelbild und zerfloß im Nichts. Voller Grauen wandte Simon sich ab, als hätte man ein erstickendes Bahrtuch aus Verlust und Verzweiflung über ihn geworfen.

Etwas war darin. Etwas Schönes war unwiederbringlich zerstört worden. Eine Welt war hier gestorben, und Simon fühlte, wie ihr versagender Schrei sich in sein Herz bohrte wie ein graues Schwert. Die furchtbare Trauer, die ihn zerriß, vertrieb selbst die verzehrende Angst und zwang schmerzhafte, schaudernde Tränen aus Brunnen, die längst hätten ausgetrocknet sein sollen. Simon umarmte die Dunkelheit und taumelte weiter die endlose Treppe hinauf, die sich um die ungeheure Kammer schlang. Schatten und Schweigen verschluckten die Traumschlacht und die Traumhalle unter ihm und tauchten ihn in ein schwarzes Leichentuch, um sein fieberndes Hirn zu verhüllen.

Unter seiner blinden Berührung verging eine Million Stufen. Eine Million Jahre glitt an ihm vorbei, und er stapfte durch die Leere und ertrank im Leid.

Dunkelheit um ihn und Dunkelheit in ihm. Das letzte, das er fühlte, waren Metall unter seinen Fingern und frische Luft auf dem Gesicht.

XIV

Das Feuer auf dem Berg

Simon erwachte in einem langgestreckten, dunklen Raum, rings umgeben von stillen, schlafenden Gestalten. Natürlich war alles nur ein Traum gewesen! Er lag in seinem Bett, mitten unter den anderen schlummernden Küchenjungen, und das einzige Licht war ein dünner Streifen Mondglanz, der durch eine Türritze hereinglitt. Er schüttelte den noch immer schmerzenden Kopf.

Warum schlafe ich denn auf dem Boden? Diese Steine sind so kalt …

Und warum lagen die anderen so reglos da, phantastische Schattenwesen mit Helm und Schild, in ordentlichen Reihen auf ihren Betten aufgebahrt wie … wie Tote, die auf das Jüngste Gericht warten? Es war doch alles nur ein Traum gewesen … oder?

Mit entsetztem Keuchen kroch Simon von der schwarzen Tunnelmündung fort und auf den blauweißen Spalt in der Tür zu. Die Abbilder der Toten, in starrem Stein auf ihre uralten Grabmäler gebannt, hinderten ihn nicht. Mit der Schulter stieß er die schwere Tür der Krypta auf und fiel vornüber ins hohe, feuchte Gras der Begräbnisstätte.

Nach dem, was ihm dort unten in den dunklen Höhlen wie unzählige Jahre vorgekommen war, erschien ihm der runde, elfenbeinerne Mond, der hoch über ihm in der Dunkelheit seine Bahn zog, wie ein weiteres Loch, ein Loch, das zu einem kühlen, von Lampen erhellten Ort hinter dem Himmel führte, einem Land der schimmernden Flüsse und des Vergessens. Er legte die Wange an die Erde und fühlte, wie sich die feuchten Halme unter seinem Gesicht bogen. Rechts und links von ihm hatten sich Finger aus vom Zahn der Zeit zernagtem Fels durch das Gefängnis des Grases gebohrt oder lagen in lang hingestreckten Bruchstücken da, vom Mond in knochenweißes Licht getaucht, namenlos und ungerührt wie die uralten Toten, deren Gräber sie einst bezeichnet hatten.

In Simons Kopf war die dunkle Spanne der Stunden von den letzten feurigen Augenblicken in der Wohnung des Doktors bis hin zum nachtfeuchten Gras der Gegenwart so unfaßbar wie die beinahe unsichtbaren Wolken, die ihre Fäden über den Himmel zogen.

Die lauten Rufe und die grausamen Flammen, Morgenes' brennendes Gesicht, Pryrates' Augen, die wie kleine Löcher in die äußerste Finsternis führten – sie waren so wirklich wie der Atem, den er gerade ausgestoßen hatte. Der Tunnel war nur ein bereits vergehender, halb vergessener Schmerz, ein Nebel aus Stimmen und leerem Wahnsinn. Er wußte, daß es dort unten unbehauene Wände und Spinnweben und sich endlos gabelnde Tunnel gegeben hatte. Ihm war, als hätte es auch lebhafte Träume von Trauer und dem Tod Schöner Wesen gegeben. Alles in allem fühlte er sich verdorrt wie ein Herbstblatt, zerbrechlich und ohne Kraft. Es kam ihm vor, als sei er zum Schluß auf allen vieren gekrochen – Knie und Arme jedenfalls taten entsprechend weh, und seine Kleider waren zerrissen –, aber seine Erinnerungen schienen in Dunkel gehüllt. Nichts davon war ganz und gar wirklich. Anders als der Begräbnisplatz, auf dem er jetzt lag, jener stille Anger des Mondes.

Hinten im Nacken drängte mit weichen, schweren Händen der Schlaf. Simon kämpfte gegen ihn an, richtete sich mit langsamem Kopfschütteln auf. Hier konnte er kein Nickerchen machen. Zwar hatte ihn, soweit er das sagen konnte, niemand durch die blockierte Tür im Zimmer des Doktors verfolgt, aber das hatte wenig zu bedeuten. Seine Feinde verfügten über Soldaten und Pferde – und die Autorität des Königs.

Furcht und ein nicht geringer Zorn verdrängten die Müdigkeit. Alles andere hatten sie ihm gestohlen: seine Freunde, sein Zuhause – sie sollten ihm nicht auch noch Leben und Freiheit nehmen. Simon blickte sich vorsichtig um. An den schief stehenden Grabsteinen fand er Halt und wischte sich die Tränen der Erschöpfung und der Angst vom Gesicht.

In etwa einer halben Meile Entfernung ragte die Stadtmauer von Erchester auf, ein mondbeschienener Steingürtel, der die schlafenden Bürger von der Begräbnisstätte und der Welt hinter ihr trennte. Vor den äußeren Toren dehnte sich das bleiche Band der Wjeldhelm-Straße, das sich zu Simons Rechter langsam nordwärts in die Berge schlängelte und zu seiner Linken den Ymstrecca durch das Ackerland unter dem Swertclif begleitete, vorbei an Falshire am gegenüberliegenden Ufer und endlich weiter in die Grasländer des Ostens.

Es war anzunehmen, daß die Städte an der großen Straße die ersten Orte waren, an denen die Erkyngarde einen Flüchtling suchen würde. Zudem führte ein großes Stück der Straße durch die Höfe des Hasutals, wo Simon, falls er den Weg verlassen mußte, nur schwer ein Versteck finden würde.