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Also kehrte er Erchester und der einzigen Heimat, die er je gekannt hatte, den Rücken und humpelte von der Begräbnisstätte fort und auf die fernen Grashügel zu. Seine ersten Schritte lösten einen schmerzhaften Ruck in seinem Hinterkopf aus, aber er wußte, daß es für ihn am besten war, wenn er die Schmerzen an Geist und Körper noch eine Zeitlang unbeachtet ließ und den Hochhorst lieber so weit wie möglich hinter sich brachte, solange es noch dunkel war; über die Zukunft konnte er sich Sorgen machen, wenn er eine sichere Stelle zum Schlafen gefunden hatte.

Als der Mond über den warmen Himmel der Mitternacht zutrieb, wurden Simons Schritte immer schwerer. Die Begräbnisstätte schien kein Ende zu nehmen – tatsächlich hatte der Boden angefangen, sich über den sanften Buckeln der äußeren Grashügel zu heben und zu senken, während Simon immer noch durch die verwitterten Steinzähne wanderte, von denen manche einsam und aufrecht dastanden, andere sich zueinander lehnten wie alte Männer in greisenhaftem Gespräch. Er schlängelte sich zwischen eingesunkenen Säulen durch und stolperte über den unebenen, mit kleinen Grasbuckeln übersäten Grund. Jeder Schritt wurde Simon zur Anstrengung, als watete er durch tiefes Wasser.

Torkelnd vor Müdigkeit, taumelte er einmal mehr über einen versteckten Stein und stürzte schwer zu Boden. Er wollte aufstehen, aber seine Glieder fühlten sich an wie nasse Sandsäcke. Noch ein kleines Stück kroch er auf allen vieren weiter, dann rollte er sich auf dem schrägen Abhang eines grasigen Grabhügels zusammen. Etwas drückte ihn im Rücken, und er drehte sich ungeschickt zur Seite, was aber kaum weniger unbequem war, weil er nun auf Morgenes' gefaltetem Manuskript lag, das in seinem Gürtel steckte. Die starrenden Augen vor Erschöpfung halb geschlossen, griff er hinter sich und suchte den ursprünglichen Stein des Anstoßes. Es war ein Stück Metall, dick mit Rost bedeckt und durchlöchert wie wurmzernagtes Holz. Er wollte es wegräumen, aber es steckte im Erdboden fest. Vielleicht war der Rest, woraus auch immer er bestehen mochte, tief im Boden des mondbereiften Hügels in der Erde verankert – eine Speerspitze vielleicht? Die Gürtelschnalle oder Beinschiene irgendeiner Kleidung, deren Eigentümer längst das Gras nährte, auf dem er gelegen hatte? Einen trüben Moment dachte Simon an alle die Körper, die hier tief unter der Erde ruhten, an das Fleisch, das einmal voller Leben gewesen war, nun aber in schweigender Finsternis moderte.

Als ihn endlich der Schlaf übermannte, war ihm, als säße er wieder auf dem Kapellendach. Unter ihm dehnte sich die Burg … aber diese Burg bestand aus feuchtem, bröckelndem Erdboden und blinden, weißen Wurzeln. Die Menschen dort schliefen in einem fort und wälzten sich im Traum unruhig hin und her, wenn sie Simon über ihren Köpfen auf dem Dachfirst laufen hörten…

Im Augenblick lief er – oder träumte es zumindest – einen schwarzen Fluß entlang, der lärmend plätscherte, aber nicht das geringste Licht spiegelte, als bestünde er aus flüssigen Schatten. Nebel umwaberte den Jungen, und er konnte von dem Land, durch das er ging, nichts erkennen. In der Finsternis hinter sich vernahm er viele Stimmen; ihr Gemurmel vermischte sich mit der halbverschluckten Stimme des schwarzen Wassers, kam näher, rauschte wie Wind.

Weder Nebel noch Dunst verhüllten die andere Seite des Flusses. Das Gras auf dem tieferliegenden Ufer bot sich weit und offen seinem Blick dar; in der Ferne stieg ein düsterer Erlenhain bis an den Rand der Berge hinauf. Das ganze Land jenseits des Flusses war dunkel und feucht – wie zur Morgen- oder Abenddämmerung; nach kurzer Zeit wurde ihm deutlich, daß es Abend sein mußte, denn in den Hügeln, die sich nahe an den Fluß lehnten, erklang das ferne, einsame Lied der Nachtigall. Alles schien erstarrt und unveränderlich.

Er spähte über das gurgelnde Wasser und sah am anderen Ufer eine Gestalt am Flußrand stehen: eine ganz in Grau gekleidete Frau, deren langes, glattes Haar die Schläfen beschattete; in den Armen hielt sie etwas, das sie eng an sich drückte. Als sie zu ihm aufsah, merkte er, daß sie weinte. Es war ihm, als kenne er sie.

»Wer bist du?« rief er. Kaum waren die Worte heraus, erstarb seine Stimme, verschlungen vom feuchten Zischen des Flusses.

Die Frau starrte ihn mit ihren großen, dunklen Augen an, als wollte sie sich jeden einzelnen seiner Gesichtszüge einprägen. Endlich sprach sie.

»Seoman.« Die Worte kamen wie aus einem langen Gang, matt und hohl. »Warum bist du nicht zu mir gekommen, mein Sohn? Der Wind ist kalt, und ich warte schon so lange.«

»Mutter?« Simon fühlte eine tiefe Traurigkeit. Das sanfte Rauschen des Wassers schien überall zu sein. Die Frau fuhr fort.

»Wir haben uns so lange nicht gesehen, mein einziges Kind. Warum kommst du nicht zu mir? Warum kommst du nicht und trocknest die Tränen deiner Mutter? Der Wind ist kalt, aber der Fluß ist warm und mild. Komm … willst du nicht herüberkommen zu mir?« Sie streckte die Arme aus; der Mund unter den schwarzen Augen öffnete sich zu einem Lächeln. Simon wollte auf sie zugehen, auf seine verlorene Mutter, die nach ihm rief, stieg das weiche Flußufer hinunter zum lachenden schwarzen Fluß. Ihre Arme waren geöffnet, für ihn … für ihren Sohn…

Und dann sah Simon, was sie in den Armen gewiegt hatte und was jetzt von ihrer ausgestreckten Hand baumelte – es war eine Puppe … eine Puppe aus Schilf und Blättern und geflochtenen Grashalmen. Aber die Puppe war schwarz geworden; die verwelkten Blätter rollten sich von den Stielen zurück – und plötzlich begriff Simon, daß nichts Lebendes diesen Fluß in das Land der Dämmerung überqueren konnte. Er blieb am Rand des Wassers stehen und blickte hinab.

Unten im tintenschwarzen Wasser glomm ein schwaches Licht; noch während er es betrachtete, stieg es nach oben und verwandelte sich in drei schlanke, glänzende Gebilde. Das Geräusch des Flusses veränderte sich, wurde zu einer Art prickelnder, unirdischer Musik. Das Wasser hüpfte und brodelte, so daß die wahre Gestalt der drei Dinge nicht zu erkennen war, aber Simon hatte das Gefühl, wenn er es wünschte, könnte er hinabgreifen und sie berühren …

»Seoman!« rief seine Mutter wieder. Er schaute auf und sah, daß sie sich entfernt hatte, schnell kleiner wurde, als sei ihr graues Land ein Sturzbach, der sie von ihm fortriß. Sie hatte ihre Arme weit ausgebreitet, und ihre Stimme war voll bebender Einsamkeit, voller Lust der Kälte für die Wärme und der hoffnungslosen Sehnsucht der Finsternis nach dem Licht.

»Simon … Simon!« Es war ein verzweifelter Klageruf.

Der Junge saß stocksteif im Gras, im Schoß des uralten Steinhügels. Noch immer stand der Mond hoch am Himmel, aber die Nacht war kalt geworden. Nebelschwaden liebkosten die zerbrochenen Steine, und Simon saß da, und sein Herz klopfte wie rasend.

»Simon…« Es war ein flüsternder Ruf aus der Schwärze weiter hinten. Tatsächlich, es war eine graue Gestalt mit der Stimme einer Frau, die von der nebelbedeckten Begräbnisstätte, durch die er gekommen war, leise nach ihm rief – nur eine winzige, sich heftig bewegende graue Gestalt, ein fernes Flackern im Nebel, der dick am Boden hing, dort zwischen den Grabstätten. Aber als Simon sie sah, war ihm, als müßte ihm das Herz in der Brust zerspringen. Er rannte quer über die Grashügel davon, rannte, als hetze ihn der Teufel selbst mit gierigen Händen. Die dunkle Masse des Thisterborgs stand am verhüllten Horizont, auf allen Seiten umgaben ihn die Grashügel, und Simon rannte und rannte und rannte…

Tausend jagende Herzschläge später wurde er endlich langsamer und verfiel in einen unregelmäßigen Gehschritt. Er hätte nicht weiterrennen können, auch wenn er dann wirklich dem Erzdämon zur Beute gefallen wäre; er war erschöpft, humpelte und verspürte einen schrecklichen Hunger. Furcht und Verwirrung hingen an ihm wie ein Mantel aus Ketten; der Traum hatte ihn so verängstigt, daß er sich schwächer fühlte als vor seinem Schlaf.