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Mühselig weiterstapfend, die Burg immer im Rücken, fühlte Simon, wie die Erinnerungen an bessere Zeiten sich aufzulösen begannen und nur ein paar ganz dünne Fäden übrigließen, die ihn noch mit der Welt von Sonnenschein, Ordnung und Sicherheit verbanden.

Wie war es damals, wenn ich so auf dem Heuboden lag, in aller Ruhe? Jetzt ist gar nichts mehr in meinem Kopf, nur noch ein Wirrwarr aus Worten. War ich gern in der Burg? Habe ich dort geschlafen, bin ich herumgelaufen, habe ich gegessen und geredet und …?

Nein, ich glaube nicht. Ich bin wohl immer unter dem Mond – diesem weißen Gesicht – durch die Grashügel gewandert wie der armselige, einsame Geist eines Mondkalbs, gewandert und gewandert …

Das plötzliche Aufzucken einer Flamme auf dem Gipfel des Berges unterbrach seine düsteren Phantasien. Schon seit einiger Zeit stieg der Boden ständig an, und Simon war fast am Fuß des finsteren Thisterborgs angekommen. Der Mantel des Berges aus hohen Bäumen stand als massive, undurchdringliche Wand vor der Dunkelheit der eigentlichen Erhebung. Jetzt leuchtete auf dem Kamm des Berges ein Feuer auf, ein Zeichen des Lebens inmitten der Grashügel und der Feuchtigkeit über Jahrhunderten des Todes. Simon setzte sich in einen langsamen Trab, der das Äußerste war, was er in seiner augenblicklichen Verfassung fertigbrachte. Vielleicht war es ein Hirtenfeuer, ein fröhlicher Brand, um die Nacht in ihre Schranken zu weisen.

Vielleicht haben sie ja etwas zu essen! Eine Hammelkeule … einen Kanten Brot…

Er mußte sich vorbeugen. Seine Eingeweide verkrampften sich beim bloßen Gedanken an Essen. Wie lange war es her? Erst seit dem Abendbrot? Erstaunlich, wenn man darüber nachdachte.

Und selbst wenn sie nichts zu essen haben, wie herrlich wird es sein, einfach nur Stimmen zu hören, sich an einem Feuer zu wärmen … einem Feuer…

Jäh sprang eine Erinnerung an hungrige Flammen vor sein geistiges Auge und brachte eine andere Art von hohlem Gefühl mit sich.

Durch Bäume und wirres Gestrüpp kletterte er bergan. Der ganze Fuß des Thisterborgs war von Nebel umwallt, als sei der Berg eine Insel, die sich aus spinnwebgrauem Meer erhob. Simon näherte sich dem Gipfel und erkannte die roh geformten Gestalten der Zornsteine, die die letzte Höhe krönten. Rot war ihr Umriß in den Himmel geätzt.

Mehr Steine. Steine und noch mehr Steine. Wie hat der Doktor sie genannt, diese Nacht – sofern es wirklich noch derselbe Mond war, dieselbe Dunkelheit dieselben matten Sterne wiegte – wie hat Morgenes sie noch gleich genannt?

Steinigungsnacht!

Das klang, als ob die Steine selbst sie feierten. Als ob, während Erchester hinter geschlossenen Fensterläden und verriegelten Türen im Schlummer lag, die Steine ein Fest veranstalteten. In seinen müden Gedanken konnte Simon sie sehen, wie sie gewichtig daherschritten, die feiernden Steine, wie sie sich verbeugten und drehten … sich langsam im Kreis drehten…

Trottel! dachte er. Bist du denn ganz verwirrt im Kopf – was kein Wunder wäre. Du brauchst etwas zu essen und Schlaf, sonst wirst du noch wirklich verrückt – was immer das bedeutete: wirklich verrückt zu werden … war man dann ständig zornig? Ganz ohne Angst? Er hatte einmal auf dem Platz der Schlachten eine Irre gesehen, aber sie hatte nur ein Lumpenbündel umklammert und sich hin und her gewiegt und dabei klagend geschrien wie eine Möwe.

Wahnsinnig unter dem Mond. Ein wahnsinniges Mondkalb!

Simon hatte die letzte, sich rings um den Berggipfel ziehende Baumreihe erreicht. Die Luft war still, als warte sie auf etwas; er spürte, wie seine Haare sich sträubten. Plötzlich kam es ihm vernünftig vor, ganz leise zu gehen und sich diese Hirten in der Nacht erst einmal aus der Distanz anzusehen, anstatt plötzlich aus dem Unterholz hervorzubrechen wie ein wütender Eber. Er duckte sich unter die krummen Glieder einer windzerstörten Eiche und pirschte sich näher an das Licht heran. Unmittelbar über ihm ragten die Zornsteine auf, konzentrische Ringe hoher, vom Sturm gemeißelter Säulen.

Jetzt erkannte er eine Ansammlung menschlicher Gestalten, die inmitten der Steinringe um das tanzende Feuer standen, die Mäntel eng über die Schultern gezogen. Irgend etwas an ihnen wirkte steif und unbehaglich, als warteten sie, daß etwas einträte, mit dem sie zwar rechneten, das sie jedoch nicht unbedingt herbeisehnten. Im Nordwesten, hinter den Steinen, wurde das Plateau des Thisterborgs schmaler. Dort schmiegten sich windgepeitschtes Gras und Heidekraut dicht an den abfallenden Boden, der sich hinter den Steinen erstreckte und endlich am nördlichen Rand des Berges aus der Reichweite des Feuerscheins verschwand.

Simon starrte die regungslosen Figuren am Feuer an und fühlte, wie sich die Last der Furcht von neuem auf ihn niedersenkte. Wieso standen sie so unbeweglich da? Waren es überhaupt lebende Menschen oder unheimliche, aus Holz geschnitzte Bergdämonen?

Eine der Gestalten näherte sich dem Feuer und stocherte mit einem Stock darin herum. Als die Flammen aufloderten, sah Simon, daß zumindest dieser Mann zu den Sterblichen gehörte. Vorsichtig kroch er weiter, bis er unmittelbar vor dem äußeren Steinring lag. Der Feuerschein fing und rötete das sekundenlange Aufblitzen von Metall unter dem Mantel der Simon am nächsten stehenden Gestalt – der Hirte trug ein Panzerhemd.

Der unendliche Nachthimmel schien sich auf ihn zu legen wie eine Decke, unter der er gefangen war. Alle diese etwa zehn Männer waren gepanzert – sie gehörten zur Erkyngarde, das wußte er jetzt genau. Bitter verfluchte er sich selber, weil er direkt auf ihr Feuer zugelaufen war, wie eine Motte sich in die Kerzenflamme stürzt.

Warum bin ich immer so ein verdammter, verdammter Esel?

Ein dünner Nachtwind sprang auf und peitschte die hohen Flammen wie brennende Wimpel. Die in Mantel und Kapuze gehüllten Wachen wandten fast gleichzeitig die Köpfe, langsam und beinahe widerwillig. Sie starrten in die Dunkelheit am Nordrand des Berges.

Dann hörte es Simon auch. Ein schwaches Geräusch übertönte den pfeifenden Wind, der das Gras Wellen schlagen ließ und sanft die Bäume schüttelte. Unmerklich wurde es lauter: das schmerzliche Kreischen hölzerner Wagenräder. Aus der Finsternis löste sich ein massiges Gebilde. Vor ihm wichen die Männer zurück, um sich auf der Simon zugewandten Seite des Feuers zusammenzudrängen. Noch hatte niemand ein Wort gesprochen.

Unbestimmte, bleiche Formen, aus denen sich langsam Pferde bildeten, erschienen am Rande des Feuerscheins; hinter ihnen schälte sich ein großer, schwarzer Wagen aus der Nacht. Zu seinen beiden Seiten gingen mit schwarzen Kapuzen verschleierte Wesen, insgesamt vier, im gleichen würdevollen Leichenzugschritt. Im flackernden Licht wurde oben auf dem Wagen eine fünfte Gestalt sichtbar, die über dem Gespann aus eisweißen Hengsten kauerte. Dieser Fünfte schien auf seltsame Weise größer als die anderen und dunkler, als trüge er einen Mantel aus Finsternis, und gerade seine reglose Ruhe schien von verborgener, brütender Macht zu künden.

Noch immer rührten sich die Wachen nicht, sondern standen starr und abwartend da. Nur das dünne Quietschen der Wagenräder durchschnitt die Stille. Simon, wie angewurzelt, spürte einen kalten Druck in seinem Kopf, eine nagende Umklammerung in den Eingeweiden.

Ein Traum, ein böser Traum … Warum kann ich mich nicht bewegen?

Der schwarze Wagen und seine Begleiter kamen, sobald sie die Grenze des Feuerscheins überschritten hatten, zum Halten. Eine der vier stehenden Gestalten hob den Arm. Der schwarze Ärmel fiel zurück und enthüllte ein Handgelenk samt Hand, beide so dünn und weiß wie Knochen.

Das Wesen sprach mit kalter Stimme, tonlos wie berstendes Eis.

»Wir sind gekommen, den Bund zu halten.«

Unter den Wartenden entstand Bewegung. Ein Mann trat vor.