Der Graf war nur noch wenige Schritte entfernt. Mit seinen gebundenen Händen lief er unbeholfen, stolperte und fiel. Er strampelte mit den Beinen, und sein Atem kam geräuschvoll wie eine Säge hinter dem Knebel hervor. Die Wachen fielen über ihn her. Simon hatte sich hinter dem Stein, der ihn verbarg, in eine halb kauernde Stellung erhoben, und sein müdes Herz hämmerte, als wolle es bersten. Verzweifelt strengte er sich an, die schlotternden Beine ruhig zu halten. Die Wachen, zum Greifen nahe, rissen Breyugar mit fürchterlichen Flüchen auf die Füße. Einer der Männer hob das Schwert und versetzte dem Widerspenstigen einen Hieb mit der flachen Klinge. Simon konnte Pryrates sehen, der aus dem Lichtkreis herüberstarrte, das aschfarbene, gebannte Gesicht des Königs neben sich. Als Breyugars schlaffe Gestalt zum Feuer zurückgezerrt wurde, blickte Pryrates noch immer mit schmalen Augen nach der Stelle, an der der Graf gestürzt war.
Wer ist dort?
Die Stimme schien auf dem Rücken des Windes senkrecht in Simons Kopf zu fliegen. Pryrates starrte ihm genau in die Augen! Er mußte ihn sehen!
Komm heraus, wer du auch bist. Ich befehle dir, herauszukommen.
Die Gestalten in den schwarzen Gewändern stimmten ein fremdartiges, drohendes Summen an, und Simon kämpfte gegen den Willen des Alchimisten. Er dachte an das, was ihm um ein Haar in dem Lagerraum widerfahren war und stemmte sich gegen die zwingende Kraft; aber er war geschwächt, ausgelaugt wie ein alter Lappen.
Komm heraus, wiederholte die Stimme, und etwas Suchendes griff nach ihm und wollte seinen Geist berühren, Simon wehrte sich, versuchte die Türen seiner Seele geschlossen zu halten; aber das, was in ihn eindringen wollte, war stärker als er. Es brauchte ihn nur zu finden, ihn zu packen…
»Wenn der Bund nicht mehr eure Billigung findet«, sagte plötzlich eine dünne Stimme, »dann wollen wir jetzt damit ein Ende machen. Es ist gefährlich, das Ritual nur halb auszusprechen – sehr gefährlich.«
Es war der Verhüllte, der da sprach, und Simon konnte fühlen, wie die suchenden Gedanken des roten Priesters erschüttert wurden.
»W-was?« fragte Pryrates wie ein soeben Erwachter.
»Vielleicht verstehst du nicht, was du hier tust«, zischte das schwarze Wesen. »Vielleicht begreifst du nicht, um wen und um was es hier überhaupt geht.«
»Nein … doch, ich weiß es…«, stammelte der Priester, und Simon konnte seine Unruhe spüren wie einen Geruch. »Schnell«, wandte er sich an die Wachen, »bringt mir diesen Sack von Unrat!« Die Wachen schleppten ihm Breyugar wieder vor die Füße.
»Pryrates…«, begann der König.
»Bitte, Majestät, bitte. Es dauert nur noch einen Augenblick.«
Zu Simons Grausen steckte ein Teil von Pryrates' Gedanken noch immer in seinem Hirn, ein klebriger Rest, den der Priester nicht zurückgezogen hatte. Er konnte die bebende Erwartung des Alchimisten beinahe schmecken, als dieser jetzt Breyugars Kopf nach oben riß; konnte fühlen, wie der Priester auf das leise Murmeln der Verhüllten reagierte. Und nun empfand er etwas noch Tieferes, einen Keil aus eisigem Grauen, der gewaltsam in seinen wunden, empfindlichen Verstand eindrang. Etwas unfaßbar Anderes war dort draußen in der Nacht – etwas entsetzlich Fremdes. Es schwebte über dem Gipfel wie eine erstickende Wolke und brannte wie eine verborgene schwarze Flamme in dem, der da auf dem Wagen hockte; auch in den Körpern der Steine lebte es und erfüllte sie mit seiner gierigen Aufmerksamkeit.
Die Sichel hob sich. Sekundenlang stand die scharlachrot aufblitzende Krümmung der Klinge am Himmel wie ein zweiter Mond, ein alter, roter Halbmond. Pryrates rief in hohen Tönen in einer Sprache, die Simon nicht verstehen konnte:
»Aí Samu'sitech'a! – Aí Nakkiga!«
Die Sichel fiel, und Breyugar sackte nach vorn. Purpurrötliches Blut pumpte aus seiner Kehle und spritzte hinunter auf den Sarg. Sekundenlang zuckte der oberste der Wachen wild unter der Hand des Priesters, um dann zu erschlaffen. Das dunkle Rinnsal tropfte weiter auf den schwarzen Sargdeckel. In die bizarre Verflechtung fremder Gedanken verstrickt wie in ein Netz, erlebte Simon hilflos das panikartige Hochgefühl mit, das Pryrates erfaßte. Dahinter spürte er das Andere – etwas kaltes, dunkles, grauenhaft Ungeheures, dessen uralte Gedanken in widerwärtiger Freude sangen.
Einer der Soldaten erbrach sich. Wäre die matte Betäubung nicht gewesen, die ihn lähmte und verstummen ließ, hätte Simon das gleiche getan.
Pryrates stieß den Leichnam des Grafen beiseite; Breyugar sank in einem plumpen Haufen zusammen, austernblasse Finger gegen den Himmel gekrümmt. Auf der dunklen Truhe rauchte das Blut, und das blaue Licht flackerte heller. Die Linie, mit der es den Rand des Sarges umrahmte, wurde deutlicher. Langsam, entsetzlich langsam, begann sich der Deckel zu heben, als zwinge ihn jemand von innen auf.
Heiliger Usires, der du mich liebst, heiliger Usires, der du mich liebst – Simons Gedanken überstürzten sich, ein vor Furcht sinnloses Gewirr – hilf mir, hilf mir, es ist der Teufel dort in der Truhe, er kommt heraus, hilf mir, rette mich, hilf… wir haben es geschafft, wir haben es geschafft! Andere Gedanken, fremde, nicht aus Simons Kopf. Zu spät zum Umkehren. Zu spät!
Der erste Schritt. Die kältesten, furchtbarsten Gedanken von allen.
Wie sie bezahlen werden, bezahlen, bezahlen…
Als der Deckel schräg stand, brach aus dem Inneren das Licht hervor, pochendes Indigoblau, rauchgrau und düsterpurpur gefleckt, ein schreckliches, verletztes Licht, das pulsierte und blendete. Der Deckel fiel nach hinten, und der Wind dämpfte sein Heulen, als habe er Angst bekommen, als sei ihm übel vom Strahlen der langen, schwarzen Truhe. Endlich wurde ihr Inhalt sichtbar.
Jingizu, flüsterte eine Stimme in Simons Kopf, Jingizu…
Es war ein Schwert. Tödlich wie eine Viper lag es in der Truhe. Vielleicht war es schwarz, aber ein darüber schwebender Glanz machte die Schwärze fleckig, ein kriechendes Grau wie Öl auf dunklem Wasser. Der Wind kreischte.
Es schlägt wie ein Herz – das Herz allen Leides …
In Simons Kopf sang es und rief nach ihm, eine Stimme, grauenvoll und schön zugleich, verführerisch wie Krallen, die sanft über die Haut kratzen.
»Nehmt es, Hoheit!« drängte Pryrates durch das Zischen des Windes. Gebannt und wehrlos, wünschte sich Simon plötzlich, stark genug zu sein, um selber danach zu greifen. Warum nicht? Macht sang zu ihm, sang von den Thronen der Gewaltigen, der Verzückung gestillter Sehnsucht.
Elias machte einen zögernden Schritt vorwärts. Einer nach dem anderen wichen die Soldaten von ihm zurück, machten kehrt und rannten schluchzend oder betend den Berg hinunter, taumelten in die Dunkelheit des Baumgürtels. Nach wenigen Augenblicken waren nur noch Elias, Pryrates und der versteckte Simon mit den Verhüllten und ihrem Schwert auf dem Gipfel. Elias tat einen zweiten Schritt; jetzt stand er vor der Truhe. Seine Augen waren vor Furcht weit aufgerissen, quälender Zweifel schien ihn zu zerreißen, seine Lippen bewegten sich tonlos. Die unsichtbaren Finger des Windes zupften an seinem Mantel, und die Berggräser umschlangen seine Knöchel.
»Ihr müßt es nehmen!« sagte Pryrates wieder, und Elias starrte ihn an, als sehe er den Alchimisten zum ersten Mal.
»Nehmt es!« Pryrates' Worte tanzten wie rasend durch Simons Kopf, Ratten in einem brennenden Haus.
Der König bückte sich und streckte die Hand aus. Vor dem wilden, leeren Nichts im Lied des Schwertes verwandelte sich Simons Lust in jähes Grauen.
Es ist unrecht! Spürt er es denn nicht? Unrecht!
Als Elias' Hand sich dem Schwert näherte, verstummte das Heulen des Windes. Die vier Vermummten standen regungslos vor dem Wagen; der fünfte schien in noch tieferen Schatten zu versinken. Ein fast greifbares Schweigen senkte sich über den Gipfel.