Bei der Eidechse zögerte Simon einen Augenblick – es mußte herrlich sein, sie in den Wäschekorb zu schmuggeln, damit sie dort von dem neuen Mädchen Hepzibah entdeckt würde … Der Gedanke an Kammermädchen und Saubermachen wollte sich in seinem Kopf festsetzen und reizte ihn; irgend etwas verlangte, daß er sich daran erinnerte, aber Simon verdrängte es. »Nein«, sagte er schließlich, »ich würde lieber ein paar Geschichten erzählt bekommen.«
»Geschichten?« Fragend beugte sich Morgenes vor. »Geschichten? Du solltest lieber zum alten Shem Pferdeknecht in die Ställe gehen, wenn du so etwas hören möchtest.«
»Nicht diese Art«, erklärte Simon schnell. Hoffentlich hatte er den Doktor nicht gekränkt; alte Leute waren so empfindlich. »Ich meine Geschichten über wirkliche Dinge. Wie es früher war … Schlachten, Drachen – über das, was sich tatsächlich ereignet hat!«
»Aha.« Morgenes setzte sich auf, und das Lächeln kehrte in sein rosiges Gesicht zurück. »Jetzt verstehe ich. Du meinst Geschichte, nicht Geschichten.« Der Doktor rieb sich die Hände. »Das ist besser – viel besser!« Er sprang auf und begann umherzuwandern, wobei er gewandt über das auf dem Fußboden verstreute Gerümpel stieg. »Nun, wovon möchtest du hören, Junge? Vom Untergang Naarveds? Von der Schlacht von Agh Samrath?«
»Erzählt mir von der Burg«, bat Simon. »Vom Hochhorst. Hat sie der König erbaut? Wie alt ist sie?«
»Die Burg…« Der Doktor hörte mit seinen Wanderungen auf, raffte einen Zipfel seines abgetragenen, speckig-grauen Gewandes und rieb damit geistesabwesend an einem von Simons liebsten Wunderdingen herum, einer Rüstung von exotischem Schnitt, in wild-blumenbunten Blau- und Gelbtönen gefärbt und ganz und gar aus poliertem Holz gefertigt.
»Hmmm … die Burg…« wiederholte Morgenes. »Ja, das ist in der Tat eine Zwei-Frosch-Geschichte, zum allermindesten. Wenn ich sie dir wirklich ganz erzählen sollte, müßtest du wohl den Burggraben trockenlegen und mir deine warzigen Gefangenen fuderweise bringen, um dafür zu bezahlen. Aber für heute, glaube ich, tut es erst einmal das nackte Gerüst der Geschichte, und das kann ich dir jedenfalls geben. Halte einen Augenblick Ruhe, bis ich etwas gefunden habe, um mir die Kehle anzufeuchten.«
Während Simon versuchte, ganz still zu sitzen, ging Morgenes an seinen langen Tisch und griff nach einem Becher mit brauner, schäumender Flüssigkeit. Mißtrauisch schnüffelte er daran, hob dann den Becher an die Lippen und nahm einen kleinen Schluck.
Nach kurzer Überlegung leckte er sich die kahle Oberlippe und zupfte beglückt an seinem Bart.
»Ah, dieses Stanshire-Dunkel. Da gibt es keinen Zweifel, nichts geht über Bier! Also, worüber sprachen wir? Ach ja, die Burg.« Morgenes räumte eine Stelle des Tisches leer und sprang dann, sorgsam seinen Becher festhaltend, mit verblüffender Behendigkeit in die Höhe und ließ sich auf der Tischplatte nieder, wobei seine Füße in ihren Pantoffeln eine halbe Elle über dem Boden baumelten. Wieder nahm er einen Schluck.
»Ich fürchte, diese Geschichte beginnt lange vor unserem König Johan. Fangen wir mit den ersten Männern und Frauen an, die nach Osten Ard gelangten – einfachen Leuten, die an den Ufern des Gleniwent lebten. Sie waren größtenteils Hirten und Fischer, vielleicht Vertriebene, die über eine Landbrücke, die heute nicht mehr vorhanden ist, aus dem verlorenen Westen kamen. Sie machten den Herrschern von Osten Ard wenig Schwierigkeiten.«
»Aber ich dachte, Ihr sagtet, sie seien als erste hierher gekommen?« unterbrach Simon, der sich insgeheim freute, den Doktor bei einem Widerspruch ertappt zu haben.
»Nein, ich sagte, sie waren die ersten Menschen. Die Sithi beherrschten dieses Land, lange bevor ein Mensch es betrat.«
»Ihr meint, es gab wirklich ein Kleines Volk?« Simon grinste. »So wie Shem Pferdeknecht erzählt? Pukas und Niskies und so weiter?« Das war aufregend.
Morgenes schüttelte heftig den Kopf und nahm einen weiteren Schluck. »Es gab sie nicht nur, es gibt sie – obwohl das meiner Erzählung vorgreift –, und sie sind ganz und gar kein ›Kleines Volk‹… warte, Junge, laß mich weiterreden.«
Simon duckte sich und gab sich Mühe, geduldig auszusehen. »Ja?«
»Nun, wie gesagt, Menschen und Sithi waren friedliche Nachbarn. Sicher gab es gelegentlich Auseinandersetzungen wegen Weideland oder ähnlichen Dingen, aber da die Menschheit ihnen nicht als wirkliche Bedrohung erschien, war das Schöne Volk großzügig. Im Lauf der Zeit begannen die Menschen dann, Städte zu bauen, manchmal nur den Fußweg eines halben Tages von dem Gebiet der Sithi entfernt.
Noch später entstand auf der felsigen Halbinsel Nabban ein großes Königreich, und die Sterblichen von Osten Ard begannen sich seiner Führung unterzuordnen. Kannst du mir noch folgen, Junge?«
Simon nickte.
»Gut.« Ein langer Zug aus dem Becher. »Nun, das Land schien groß genug für alle, bis schwarzes Eisen über das Wasser kam.«
»Was? Schwarzes Eisen?« Der scharfe Blick des Doktors ließ Simon sofort wieder verstummen.
»Die Schiffer aus dem fast vergessenen Westen, die Rimmersmänner«, fuhr Morgenes fort. »Sie landeten im Norden, bewaffnete Männer, wild wie Bären. In ihren langen Schlangenbooten fuhren sie.«
»Die Rimmersmänner?« fragte Simon erstaunt. »Wie Herzog Isgrimnur am Hof? In Booten?«
»Sie waren große Seefahrer, ehe sie hier seßhaft wurden, die Ahnen des Herzogs«, bestätigte Morgenes. »Aber als sie landeten, waren sie zunächst nicht auf der Suche nach Weide- oder Ackerland, sondern auf Raub aus. Doch das Wichtigste war, daß sie das Eisen mitbrachten, oder zumindest das Geheimnis seiner Bearbeitung. Sie schmiedeten eiserne Schwerter und Speere, Waffen, die nicht zerbrachen wie die Bronze von Osten Ard; Waffen, die selbst das Hexenholz der Sithi bezwingen konnten.«
Morgenes sprang auf den Boden und füllte seinen Becher aus einem zugedeckten Eimer, der auf einem Dom von Büchern an der Wand stand. Statt an den Tisch zurückzugehen, blieb er stehen und strich über die glänzenden Schulterstücke der Rüstung.
»Niemand leistete ihnen lange Widerstand – der kalte, harte Geist des Eisens schien die Schiffer selbst ebenso zu erfüllen wie ihre Klingen. Viele Leute flohen nach Süden, in den Schutz der nahen nabbanischen Grenzstationen. Die Nabbani-Legionen, gut organisierte Garnisonsstreitkräfte, leisteten eine Zeitlang erfolgreich Widerstand. Aber endlich mußten sie doch den Rimmersmännern die Frostmark überlassen. Es … gab große Gemetzel.«
Simon rutschte begeistert hin und her. »Und die Sithi? Ihr habt gesagt, sie hatten kein Eisen?«
»Es war tödlich für sie.« Der Doktor leckte sich den Finger und rieb einen Fleck vom polierten Holz der Brustplatte.
»Auch sie konnten die Rimmersmänner nicht in offener Feldschlacht besiegen, aber«, er wies mit dem staubigen Finger auf Simon, als betreffe die Tatsache den Jungen persönlich, »aber die Sithi kannten ihr Land. Sie waren mit ihm verbunden, waren in gewisser Weise ein Teil davon, wie es die Eindringlinge niemals sein konnten. So behaupteten sie sich lange Zeit, indem sie sich langsam an Orte zurückzogen, an denen sie mächtig waren. Und der wichtigste davon – und der Grund dafür, daß ich dir das alles erzähle – war Asu'a, der Hochhorst.«
»Unsere Burg? Die Sithi haben auf dem Hochhorst gewohnt?« Simon konnte den Zweifel in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Wann ist die Burg denn erbaut worden?«
»Simon, Simon…« Der Doktor kratzte sich am Ohr und hockte sich wieder auf den Tisch. Aus den Fenstern war der Sonnenuntergang inzwischen gänzlich verschwunden, und das Fackellicht teilte Morgenes' Gesicht in zwei Teile wie eine Maske beim Mummenschanz, halb beleuchtet, halb im Dunkeln. »Vielleicht – nach allem, was ich und alle anderen Sterblichen überhaupt wissen können – stand hier schon eine Burg, bevor noch die Sithi selbst ins Land kamen … damals, als Osten Ard so neu und rein war wie ein Bach aus geschmolzenem Schnee. Gewiß aber lebte das Volk der Sithi hier schon ungezählte Jahre, ehe der Mensch erschien. Dies ist der erste Ort in Osten Ard, der das Werk gestaltender Hände erfuhr. Es ist die mächtigste Stelle des Landes, der Ort, der die Wasserwege beherrscht und über das beste Ackerland gebietet. Der Hochhorst und seine Vorgänger, die noch älteren Festungen, die unter uns begraben liegen, haben hier gestanden, lange bevor sich die Menschen zu erinnern begannen. Als die Rimmersmänner kamen, war diese Stätte alt, uralt.«