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Elias faßte den Griff und hob mit einer einzigen fließenden Bewegung die Klinge aus dem Sarg. Als er sie vor sich hielt, wich unvermittelt die Furcht aus seinem Gesicht, und die Lippen öffneten sich zu einem hilflosen, einfältigen Lächeln. Er reckte das Schwert in die Höhe. Ein blauer Schimmer umspielte die Schneide und zeichnete sie scharf gegen die Schwärze des Himmels ab. Elias' Stimme war fast ein Wimmern des Glücks.

»Ich … nehme die Gabe des Meisters an. Ich werde … unseren Pakt erfüllen.« Langsam, die Klinge vor sich haltend, sank er auf ein Knie.

»Heil Ineluki Sturmkönig!«

Wieder erhob sich kreischend der Wind. Simon fuhr zurück vor dem lodernden, tanzenden Bergfeuer. Die Gestalten in ihren Gewändern hoben die weißen Arme und intonierten: »Ineluki, aí! Ineluki, aí!«

Nein! wirbelten Simons Gedanken, der König … alles verloren! Lauf, Josua!

Leid … Leid über dem ganzen Land!

Oben auf dem Wagen begann die fünfte verhüllte Gestalt sich zu winden wie eine Schlange. Das schwarze Gewand fiel von ihr ab, und ein Wesen aus flammendrotem Licht wurde sichtbar, flatternd wie ein brennendes Segel. Eine gespenstische, herzzerreißende Furcht ging von ihm aus, während es begann, vor Simons vom Grauen gebanntem Blick zu wachsen – körperlos und wogend, größer und größer, bis seine leere, im Wind knatternde Hülle alles überragte, ein Geschöpf aus heulender Luft und glühender Röte.

Der Teufel ist hier! Leid, sein Name ist Leid! Der König hat den Teufel über uns gebracht. Morgenes! Heiliger Usires! Rettet mich rettet mich rettet mich!

Wie von Sinnen rannte Simon durch die schwarze Nacht bergab, fort von dem roten Ding und dem jubelnden Anderen. Das Geräusch seiner Flucht ging im schreienden Wind unter. Äste rissen an seinen Armen und Haaren und schlugen wie Klauen nach seinem Gesicht.

Die eisige Klaue des Nordensdie Ruinen von Asu'a.

Und als er endlich stürzte und sich überschlug und sein Geist vor soviel Grauen in die tiefere Dunkelheit floh, da war es ihm im letzten Augenblick, als könne er die Steine der Erde selbst hören, die unter ihm in ihrem Bett stöhnten.

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Simon Pilgrim

XV

Eine Begegnung im Gasthof

Das erste, was Simon hörte, war ein Summgeräusch, ein dumpfes Brummen, das hartnäckig an sein Ohr drängte, während er sich mühte, wach zu werden. Er öffnete ein Auge halb – und starrte auf ein Ungeheuer, eine dunkle, unbestimmte Masse sich windender Beine und glitzernder Augen. Mit einem erschreckten Aufjaulen und wild um sich fuchtelnd, fuhr er in die Höhe; die Hummel, die arglos seine Nase erkundet hatte, sauste mit wildem Surren ihrer durchscheinenden Flügel davon, um sich einen weniger leicht erregbaren Sitzplatz zu suchen.

Simon hob die Hand, um seine Augen zu beschatten. Die lebenssprühende Klarheit der Welt ringsum ließ ihn staunen. Das Tageslicht blendete. Die Frühlingssonne hatte, als schritte sie in einer kaiserlichen Prozession einher, nach allen Seiten Gold gestreut, quer über die grasigen Hügel; wohin er auch blickte, überall standen die sanften Hänge üppig voller Löwenzahn und langstieliger Ringelblumen. Bienen eilten zwischen ihnen hin und her, nippten an einer Blüte nach der anderen und entdeckten – wie kleine Ärzte – zu ihrer großen Überraschung, daß ihre Patientinnen alle gleichzeitig wieder gesund wurden.

Simon ließ sich ins Gras zurücksinken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er hatte lange geschlafen; die strahlende Sonne stand fast senkrecht über ihm. In ihrem Schein glühten die Haare auf seinen Unterarmen wie geschmolzenes Kupfer; die Spitzen seiner zerrissenen Schuhe schienen so weit entfernt, daß er sie sich fast als Gipfel ferner Berge vorstellen konnte.

Ein jäher, kalter Erinnerungssplitter stach in seine Schläfrigkeit. Wie kam er hierher? Was …?

Ein dunkler Schatten an seiner Schulter brachte ihn hastig auf die Knie; beim Umdrehen sah er hinter sich das Massiv des Thisterborgs, in einen Mantel aus Bäumen gehüllt, keine halbe Meile entfernt. Jede Einzelheit war überwältigend klar, ein scharfkantiges Muster; ohne das quälende Pochen seines Gedächtnisses hätte der Berg angenehm und kühl wirken können, ein freundlicher Hügel, der sich aus den Bäumen erhob, die ihn umringten, mit Schatten und hellgrünem Laub bebändert. Oben auf dem Kamm standen die Zornsteine, mattgraue Punkte im blauen Himmel.

Ein Nebeltraum verdarb auf einmal den munteren Frühlingstag: Was war letzte Nacht geschehen?

Natürlich, er war aus der Burg geflohen – diese Augenblicke, die letzten mit Morgenes, hatten sich ihm tief ins Herz gebrannt; aber danach? Woher kamen diese Alptraumerinnerungen? Endlose Tunnel? Elias? Ein Feuer und weißhaarige Dämonen?

Träume – törichte, böse Träume. Entsetzen und Müdigkeit und noch mehr Entsetzen. Nachts bin ich über den Begräbnisplatz gerannt, schließlich noch hingefallen, eingeschlafen, habe geträumt.

Aber diese Tunnel und … ein schwarzer Sarg? Simon tat immer noch der Kopf weh, aber er hatte gleichzeitig ein merkwürdiges Gefühl von Taubheit, als hätte man Eis auf eine Verletzung gelegt. Der Traum war so wirklich gewesen. Jetzt schien er weit weg, ungreifbar und sinnlos – ein dunkler Anfall von Furcht und Schmerz, der verwehen würde wie Rauch, wenn Simon es zuließ – wenigstens hoffte er das. Er drängte die Erinnerungen in sein Inneres hinab, vergrub sie, so tief er konnte, und schloß seinen Geist über ihnen wie einen Truhendeckel.

Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte…

Die helle Sonne des Belthainn-Tages hatte ein paar von den Knoten in seinen Muskeln geglättet, aber er spürte immer noch den Schmerz … und großen Hunger. Mühsam und steif stand er auf und klopfte sich das an seinen schlammverschmierten, zerfetzten Kleidern haftende Gras ab. Noch einmal sah er verstohlen zum Thisterborg hinüber. Schwelte dort oben zwischen den Steinen wirklich die Asche eines großen Feuers? Oder hatten die furchtbaren Ereignisse des Vortages ihn für eine Weile in den Wahnsinn getrieben?

Der Berg stand ausdruckslos da. Simon wollte gar nicht wissen, welche Geheimnisse unter seinem Baummantel lauerten oder in der steinernen Krone nisteten. Es gab schon zu viele Lücken, die auszufüllen waren.

Also kehrte er dem Thisterborg den Rücken zu und blickte über die Hügel nach der dunklen Vorhut des Forstes. Während er so über die weite Fläche offenen Landes schaute, fühlte er, wie großer Kummer in ihm aufstieg – und heftiges Mitleid mit sich selbst. Er war so allein! Alles hatte man ihm genommen, ihn ohne Heimat oder Freunde im Stich gelassen. Vor Wut klatschte er in die Hände, daß die Handflächen brannten. Später! Später würde er weinen; jetzt mußte er ein Mann sein. Aber es war alles so gräßlich ungerecht!

Er atmete tief ein und aus, dann schaute er wieder auf die fernen Wälder. Irgendwo an dieser dünnen Schattenlinie, das wußte er, verlief die Alte Forststraße. Sie rollte viele Meilen an Aldheortes Südrand entlang, manchmal in einigem Abstand, manchmal auch eng an die alten Bäume geschmiegt wie ein schalkhaftes Kind. An anderen Stellen wagte sie sich sogar unter das Vordach des Waldes und schlängelte sich durch dunkle Lauben und schweigende, von Sonnenpfeilen durchbohrte Lichtungen. Ein paar kleine Dörfer und hier und da ein Rasthaus duckten sich in den Waldesschatten.

Vielleicht kann ich irgendeine Arbeit finden – wenigstens, um mir eine Mahlzeit zu verdienen. Ich fühle mich so hungrig wie ein Bär … und zwar einer, der gerade eben aufgewacht ist. Völlig ausgehungert! Ich habe nichts mehr gegessen seit … bevor … bevor…