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Er biß sich hart auf die Lippe. Es gab keine andere Möglichkeit als loszumarschieren.

Die Berührung der Sonne war wie eine Segnung. Sie wärmte den wunden Körper und schien zugleich einen kleinen Einschnitt in das enge, quälende Bahrtuch seiner Gedanken zu tun. In gewisser Hinsicht fühlte er sich neugeboren, wie das Fohlen, das Shem ihm letztes Frühjahr gezeigt hatte – nichts als wacklige Beine und Neugier. Aber diese neue Fremdartigkeit der Welt war nicht gänzlich unschuldig; hinter dem bunten Teppich, der da vor ihm ausgebreitet lag, lauerte etwas Absonderliches und Verborgenes; die Farben waren fast zu leuchtend, die Düfte und Töne allzu süß.

Bald wurde er sich auch mit Unbehagen Morgenes' Manuskript bewußt, das in seinem Gürtelband steckte; aber nachdem er ein paar hundert Schritte weit versucht hatte, das Pergamentbündel in den schwitzenden Händen zu tragen, gab er auf und stopfte es wieder unter den Gürtel. Der alte Mann hatte ihn gebeten, es in Sicherheit zu bringen, und das wollte er tun. Er schob den Hemdzipfel darunter, damit es nicht so scheuerte.

Als er es satt hatte, geduldig nach seichten Stellen zu suchen, an denen er die kleinen Bäche überqueren konnte, die immer wieder die Wiesen durchzogen, streifte er die Schuhe ab. Der Duft des Graslandes und die feuchte Maia-Luft trugen, auch wenn man sich auf ihre Verheißungen nicht verlassen konnte, doch einiges dazu bei, daß Simons Gedanken sich nicht mehr an die schwarzen, schmerzhaften Orte zurückverirrten; auch das Gefühl des Schlammes zwischen den Zehen half.

Nicht lange, so hatte er die Alte Forststraße erreicht. Anstatt jedoch auf der Straße selbst weiterzugehen, die breit und lehmig und mit vom Regen gefüllten Fahrrinnen durchfurcht war, hielt Simon sich westlich und begleitete sie oben auf der hohen Grasböschung. Unter ihm standen weiße Narzissen und blaue Levkojen beschämt und schutzlos zwischen den Radspuren, als hätte man sie in der Mitte eines langsamen Pilgerzuges von einer Böschung zur anderen überrascht. Das Nachmittagsblau des Himmels spiegelte sich in Pfützen, und der bescheidene Schlamm schien mit blinkendem Glas besetzt.

Eine Achtelmeile jenseits der Straße standen die Bäume des Aldheorte in endloser Reihe wie ein im Stehen eingeschlafenes Heer. Zwischen manchen Stämmen gähnte eine so undurchdringliche Finsternis, als wären sie Tore ins Erdinnere. An anderen Stellen gab es Gebilde, die Holzfällerhütten sein mußten, auffällig eckig im Gegensatz zu den anmutigen Linien des Forstes.

Während Simon so weiterging und die unendliche Halle des Waldes betrachtete, stolperte er über einen Beerenstrauch und zerkratzte sich schmerzhaft die Füße. Sobald er jedoch bemerkte, worüber er gestrauchelt war, hörte er mit dem Fluchen auf. Die meisten Beeren waren noch grün, aber es gab schon soviel reife darunter, daß wenige Minuten später, als er zufrieden kauend seinen Weg fortsetzte, Wangen und Kinn voller Beerensaft waren. Auch wenn die Beeren noch nicht die richtige Süße besaßen, schienen sie ihm seit langer Zeit das erste ernsthafte Argument für eine wohlwollende Ordnung der Schöpfung zu sein. Als er aufgegessen hatte, wischte er sich an den Überresten seines Hemdes die Hände ab.

Als die Straße, mit Simon als treuem Gefährten, eine lange Strecke über ansteigendes Gelände zu klettern begann, zeigten sich endlich auch unverkennbare Anzeichen menschlicher Besiedlung. Am südlichen Horizont reckten sich hier und da die rohen Spitzen von Spaltholzzäunen aus dem hohen Gras; hinter diesen verwitterten Grenzwächtern bewegten sich undeutliche Gestalten im langsamen Rhythmus des Pflanzens und legten die Früherbsen. Irgendwo in ihrer Nähe würden andere bedächtig die Reihen abschreiten, Unkraut hacken und ihr Bestes versuchen, die Früchte eines schlimmen Jahres zu retten. Die jüngeren Leute würden auf den Dächern der Häuschen stehen und das Stroh wenden, es mit langen Stöcken festklopfen und das Moos abkratzen, das dort im Aprilregen gewachsen war. Simon fühlte den starken Drang, querfeldein zu laufen, auf diese ruhigen, wohlgeordneten Bauernhöfe zu. Irgend jemand würde ihm sicher Arbeit geben … eine Unterkunft … Essen …

Kann ich überhaupt noch dümmer sein? dachte er. Warum gehe ich nicht gleich zurück in die Burg und stelle mich schreiend auf den Angerhof?

Landleute, das war wohlbekannt, begegneten Fremden grundsätzlich mit Mißtrauen, erst recht in solchen Zeiten, da von Norden her ständig Gerüchte über Raubüberfälle und Schlimmeres zu ihnen drangen. Außerdem war Simon überzeugt, daß die Erkyngarde nach ihm suchte. Die Bewohner dieser einsamen Gehöfte würden sich höchstwahrscheinlich gut an einen rothaarigen jungen Mann erinnern, der kürzlich vorbeigekommen war. Zudem hatte er es gar nicht so eilig, mit Fremden zu sprechen – nicht so nahe beim Hochhorst. Vielleicht würde er in einem der Gasthöfe am Rande des geheimnisvollen Waldes mehr Glück haben – wenn ihn einer davon aufnahm.

Schließlich verstehe ich etwas von Küchenarbeit, oder etwa nicht? Es wird mir schon jemand Arbeit geben…

Er kam über eine Kuppe und sah einen dunkleren Strich, der hier die Straße kreuzte, eine Rinne von Wagenspuren, die aus dem Wald kamen und sich südwärts in die Felder hineinwanden; vielleicht ein Holzweg, ein Pfad vom Ernteort der Holzhauer zum Ackerland im Westen von Erchester. Dort, wo die beiden Wege sich kreuzten, stand etwas Dunkles, eckig und aufrecht. Ein kurzer Anflug von Furcht befiel Simon, bevor ihm bewußt wurde, daß, was immer dort aufragte, zu groß war, um ein Mensch zu sein, der auf ihn wartete. Es mußte eine Vogelscheuche sein, oder ein Straßenheiligtum für Elysia, die Mutter Gottes – Wegkreuzungen waren verrufene, unheimliche Orte, an denen das einfache Volk gern heilige Reliquien errichtete, um Geister fernzuhalten, die dort sonst vielleicht herumlungerten.

Als Simon sich der Kreuzung näherte, stellte er fest, daß seine Vermutung, es handele sich um eine Vogelscheuche, wohl zutraf – der Gegenstand schien an einem Baum oder Pfahl zu hängen und schwankte, von einem leichten Wind bewegt, sacht vor sich hin. Je näher er allerdings kam, desto deutlicher wurde, daß es keine Vogelscheuche war. Bald konnte Simon sich nicht mehr einreden, daß es etwas anderes war als der Leichnam eines Mannes, der an einem rohen Galgen schaukelte.

Jetzt hatte er den Kreuzweg erreicht. Der Wind legte sich. Dünner Straßenstaub umgab den Jungen wie eine braune Wolke. Er hielt an und starrte hilflos nach oben. Der Straßenstaub begann sich zu setzen, um dann von neuem in wirbelnde Bewegung zu geraten.

Die Füße des Gehängten, nackt und schwarz angeschwollen, baumelten in Höhe von Simons Schultern. Der Kopf hing schlaff nach einer Seite wie bei einem Welpen, den man am Nackenfell hochhebt; an Augen und Gesicht hatten die Vögel gepickt. Eine zerbrochene Holzschindel mit den darauf eingekratzten Worten »ND GEWILDERT« schlug leicht gegen seine Brust; unten auf der Straße lag noch ein Stück. Darauf stand in ungelenken Buchstaben: »IN KÖNIGSLA«.

Simon machte einen Schritt zurück. Ein unschuldiger kleiner Wind drehte den hängenden Körper um, so daß der Kopf nach der anderen Seite kippte, um blicklos auf die Felder hinauszustarren. Hastig überquerte Simon den Holzweg und machte das Zeichen des vierspitzigen Baumes auf seiner Brust, als er den Schatten des Gehängten passierte. Normalerweise hätte er einen solchen Anblick zwar furchterregend, aber doch faszinierend gefunden, jetzt aber war alles, was dabei in ihm aufstieg, Ekel und Entsetzen. Er hatte ja auch gestohlen, oder beim Stehlen geholfen – etwas viel Größeres, als dieser armselige Dieb hier sich je hätte träumen lassen: Er hatte den Bruder des Königs aus des Königs eigenem Verlies gestohlen. Wie lange würde es dauern, bis sie ihn fingen, so wie sie dieses von den Krähen zerfressene Geschöpf gefangen hatten? Und was würde seine Strafe sein?

Einmal schaute er zurück. Das zerstörte Gesicht hatte sich erneut gedreht, als wollte es Simons Rückzug beobachten. Er rannte, bis eine Straßensenke die Kreuzung außer Sicht brachte.