Es war später Nachmittag, als er das kleine Dörfchen Flett erreichte. Tatsächlich konnte man es kaum ein Dorf nennen; es gab nur einen Gasthof mit ein paar Häusern, die sich einen Steinwurf weit vom Wald entfernt neben der Straße zusammenduckten. Kein Mensch war zu sehen außer einer dünnen Frau, die in der Tür eines der schmucklosen Häuser stand, und zwei ernsthaften, rundäugigen Kindern, die hinter ihren Beinen hervorspähten. Dafür gab es aber mehrere Pferde, zumeist Bauerngäule, die vor dem Dorfgasthof, der den Namen »Zum Drachen und Fischer« führte, an einen Baum gebunden waren. Als Simon langsam an der offenen Tür vorüberging und sich vorsichtig nach allen Seiten umblickte, grölten laute Männerstimmen aus der biergeschwängerten Dunkelheit und machten ihm angst. Er beschloß zu warten und sein Glück erst später zu versuchen, wenn vielleicht mehr Gäste dasein würden, die hier an der Alten Forststraße übernachten wollten, und seine schmutzige, zerlumpte Erscheinung weniger auffiele.
Er ging weiter die Straße hinauf. Sein Magen knurrte, und er wünschte sich, er hätte ein paar von den Beeren aufbewahrt. Es gab nur noch wenige Häuser, darunter ein kleines, einräumiges Kirchenhäuschen, dann bog die Straße oben unter das Vordach des Waldes ein, und Flett, soweit man überhaupt von ihm sprechen konnte, war zu Ende.
Gleich am Dorfausgang fand er ein Bächlein, das über den schwarzen, von Blättern durchsetzten Boden plätscherte. Er kniete nieder und trank. Dann zog er, wobei er sich um Dornengestrüpp und Feuchtigkeit so wenig wie möglich zu kümmern versuchte, wieder die Schuhe aus, um sie als Kopfkissen zu benutzen, und rollte sich am Fuß einer Lebenseiche zusammen, knapp außer Sichtweite der Straße und des letzten Hauses. Schon bald schlief er unter den Bäumen, ein dankbarer Gast ihrer kühlen Halle.
Simon träumte…
Am Fuß eines hohen weißen Baumes sieht er einen Apfel, einen Apfel, so glänzend und rund und rot, daß er kaum hineinzubeißen wagt. Aber sein Hunger ist groß, und bald führt er die Frucht zum Mund und versenkt seine Zähne darin. Der Geschmack ist köstlich, kernig und voller Süße, aber als er die Stelle anschaut, wo er abgebissen hat, erblickt er unter der hellen Oberfläche zusammengeringelt den dünnen, glitschigen Körper eines Wurms. Er bringt es nicht über sich, den Apfel fortzuwerfen – es ist eine so herrliche Frucht und er so ausgehungert. Er dreht ihn um und beißt in die andere Seite, aber als seine Zähne aufeinandertreffen, löst er seinen Mund und erkennt aufs neue den Schlangenleib des Wurms. Immer wieder beißt er in den Apfel, jedesmal an einer anderen Stelle, aber jedesmal liegt unter der Schale das schlüpfrige Wesen. Es scheint weder Kopf noch Schwanz zu haben, nur endlose Ringe, die sich um das Kernhaus schlingen und durch das kühle weiße Fleisch des Apfels winden…
Simon erwachte unter den Bäumen mit Kopfschmerzen und einem sauren Geschmack im Mund. Er ging an das Bächlein, um zu trinken. Er fühlte sich matt und niedergeschlagen. Wann war je ein Mensch so einsam gewesen? Das schräge Nachmittagslicht fiel nicht auf die tieferliegende Wasseroberfläche; als er niederkniete und in das murmelnde, dunkle Wasser blickte, war ihm, als wäre er schon einmal an einem solchen Ort gewesen. Während er noch darüber nachsann, übertönte lauter werdendes Stimmengewirr das leise Rauschen der Bäume. Schon fürchtete er, wieder zu träumen; aber als er sich umdrehte, sah er eine Schar von Menschen, gut zwanzig Köpfe stark, die Alte Forststraße nach Flett heraufkommen. Mit dem Hemdsärmel trocknete Simon seinen Mund ab und schlich sich im Schatten der Bäume heran, um sie zu beobachten.
Es waren Bauersleute, in das grobe Kätnertuch der Gegend gekleidet, aber festlich aufgeputzt. Die Frauen hatten Bänder ins offene Haar gewunden, blau und gold und grün. Röcke flogen um nackte Knöchel. Ein paar Vorauslaufende trugen Blütenblätter in den Schürzen und ließen sie zu Boden flattern. Die Männer, manche von ihnen jung und leichtfüßig, schleppten einen gefällten Baum auf den Schultern. Seine Zweige waren mit Bändern geschmückt wie die Frauen, und die Männer hielten ihn hoch und schaukelten ihn fröhlich, als sie die Straße heraufkamen.
Simon lächelte schwach. Der Maia-Baum! Natürlich. Heute war Belthainn-Tag, und sie brachten den Maia-Baum. Er hatte oft zugeschaut, wie der Baum in Erchester auf dem Platz der Schlachten aufgestellt wurde. Plötzlich kam ihm sein Lächeln zu breit vor. Ihm war schwindlig. Er duckte sich tiefer in das Gestrüpp, das ihn verbarg.
Jetzt sangen die Frauen, und ihre lieblichen Stimmen vereinten sich zu einem ungleichen Chor, während die ganze Schar tanzte und sich im Kreis drehte.
Und die Männer antworteten ihnen mit ihren rauhen und vergnügten Stimmen:
Und gemeinsam sangen sie den Kehrreim:
Als die lärmende Schar Simons Versteck passierte, begannen die Frauen einen neuen Vers, der von Stockrosen und Lilienblättern und dem König der Blumen handelte. Einen Moment lang von der guten Laune mitgerissen, den Kopf voll von der ausgelassenen Musik, begann sich der Junge auf sie zu zu bewegen. Plötzlich stolperte auf der sonnenfleckigen Straße, keine zehn Schritte von ihm entfernt, einer der ihm an nächsten laufenden Männer, dem sich ein herunterhängendes Band vor die Augen geschoben hatte. Ein Gefährte half ihm, sich zu befreien, und als er den goldenen Streifen löste, verzog sich sein bärtiges Gesicht zu einem breiten Grinsen. Aus irgendeinem Grund hielt dieses Blitzen lachender Zähne Simon zurück – nur einen Schritt vor dem Heraustreten aus seinem Baumversteck.
Was mache ich denn? schalt er sich. Beim ersten Ton freundlicher Stimmen springe ich schon hervor? Diese Leute hier feiern ein Fest, aber auch ein Hund spielt mit seinem Herrn – und wehe dem Fremden, der unangemeldet zu ihm tritt.
Der Mann, den er beobachtet hatte, rief seinem Begleiter etwas zu, das Simon im Lärm der anderen nicht verstehen konnte, wandte sich dann um, hielt ein Band hoch und schrie einem Dritten etwas entgegen. Der Baum holperte weiter, und als die letzten Nachzügler der Prozession vorbei waren, schlich Simon auf die Straße hinaus und folgte ihnen, eine dünne, in Lumpen gehüllte Gestalt, die aussah wie der klagende Geist des Maia-Baumes, der sehnsüchtig seiner geraubten Wohnstatt hinterherlief.
Die schwankende Parade bewegte sich auf einen kleinen Hügel hinter der Kirche zu. Auf den breiten Feldern verschwand jetzt schnell der letzte Sonnensplitter; der Schatten des Baumes auf dem Dachfirst der Kirche lag wie ein langes Messer mit gebogenem Griff auf der Anhöhe. Simon, der nicht wußte, wie es weitergehen sollte, blieb ein gutes Stück hinter der Gruppe zurück, die den Baum die kleine Steigung hinaufschleppte und dabei immer wieder stolperte oder sich in den frischen Trieben der Dornenhecke verfing. Oben sammelten sich schwitzend und unter lauten Scherzen die Männer und stellten den Stamm aufrecht in ein bereits ausgehobenes Loch. Dann richteten einige den schwankenden Stamm gerade, während andere den Fuß mit Steinen abstützten. Endlich traten sie zurück. Der Maia-Baum wackelte ein bißchen und kippte leicht nach der einen Seite, was die Menge zu erschrecktem Auflachen veranlaßte. Aber er blieb – nur leicht außerhalb der Lotrechten – stehen; großer Jubel erhob sich. Auch Simon im Schatten der Bäume stieß einen kleinen glücklichen Laut aus und mußte sich sogleich wieder verstecken, weil es ihm die Kehle zuschnürte. Er hustete, bis ihm Schwärze vor den Augen tanzte: Es war fast einen ganzen Tag her, daß er ein Wort gesprochen hatte.