Mit tränenden Augen schlich er wieder hervor. Am Fuß der Anhöhe hatte man ein Feuer entzündet. Der Baum, dessen höchste Spitze vom Sonnenuntergang gefärbt war und unter dem die Flammen tanzten, sah aus wie eine an beiden Enden brennende Fackel. Von den Essensdüften unwiderstehlich angezogen, näherte Simon sich den alten Männern und Gevatterinnen, die an der Steinmauer hinter dem Kirchlein Tücher ausbreiteten und Abendessen darauf stellten. Er war überrascht und enttäuscht, wie mager die Vorräte waren – eine geringe Belohnung für den Festtag und, weit schlimmer, eine noch viel geringere Aussicht für ihn, sich unbemerkt mit ein paar Bissen davonzustehlen.
Die jüngeren Männer und Frauen hatten angefangen, um den Maia-Baum herumzutanzen und einen Kreis zu bilden. Aber weil, neben anderen Widrigkeiten, manche betrunken den Hügel hinunterpurzelten, schloß sich der Ring nie ganz; die Zuschauer johlten, wenn die schwindlig vorüberwirbelnden Tänzer vergeblich die Hand ausstreckten, um eine andere Hand zu ergreifen. Einer nach dem anderen taumelten die Feiernden vom Tanz fort, wobei sie torkelten und manche den niedrigen Hügel herunterrollten, um dann unten liegen zu bleiben und unbändig zu lachen. Simon sehnte sich von ganzem Herzen danach, dabeisein zu dürfen.
Bald saßen überall im Gras und an der Mauer kleine Gruppen von Menschen. Die oberste Spitze des Baumes war ein Rubinspeer, in dem sich die letzten Strahlen der Sonne fingen. Einer der Männer am Fuß des Hügels griff zu einer Schienbeinflöte und begann zu spielen. Nach und nach wurde es still, nur manchmal war ein Flüstern oder ein gelegentliches Aufquieken unterdrückten Gelächters zu hören. Schließlich hüllte die atmende blaue Dunkelheit alle ein. Die klagende Stimme der Flöte schwang sich in die Luft wie der Geist eines schwermütigen Vogels. Eine schwarzhaarige junge Frau mit schmalem Gesicht stützte sich auf die Schulter ihres jungen Mannes und stand auf. Sanft schwankend wie eine junge Birke im Weg des Windes fing sie an zu singen. Simon fühlte, wie sich die große Leere in ihm dem Lied öffnete, dem Abend, dem geduldigen, zufriedenen Geruch des Grases und anderer Dinge, die wuchsen. O treuer Freund, o Lindenbaum sang sie.
Als das schwarzhaarige Mädchen sich wieder setzte, knisterte und sprühte das Feuer, als wollte es sich über ein so nasses, zärtliches Lied lustig machen.
Simon entfernte sich eilig von den Flammen. Seine Augen standen voller Tränen. Die Stimme der Frau hatte ein wildes, hungriges Heimweh in ihm geweckt, nach den scherzenden Stimmen der Küchenjungen, der beiläufigen Freundlichkeit der Kammerfrauen, nach seinem Bett, seinem Burggraben, Morgenes' langgestreckten, sonnengefleckten Zimmern, sogar – die Feststellung bereitete ihm Kummer – der strengen Gegenwart von Rachel, dem Drachen.
Hinter ihm erfüllten Gemurmel und Lachen die Frühlingsdunkelheit wie das Schwirren sanfter Flügel. Vor ihm schlenderten vielleicht zwei Dutzend Leute über die Straße vor der Kirche. Die meisten, in Zweier-, Dreier- und Vierergruppen, schienen durch das herabsinkende Dunkel auf den Gasthof zuzustreben. Aus der offenen Tür drang Feuerschein und tauchte die vor dem Eingang Stehenden in gelbes Licht. Als Simon, der sich immer noch die Augen wischte, näher kam, überschwemmte ihn der Geruch von Fleisch und Braunbier wie die Woge eines Ozeans. Langsam, in mehreren Schritten Entfernung, ging er hinter der letzten Gruppe her und überlegte, ob er sofort nach Arbeit fragen oder erst einmal in der geselligen Wärme abwarten sollte, bis der Wirt vielleicht später einen Augenblick Zeit für ihn haben und sehen würde, daß er ein vertrauenswürdiger Bursche war. Der bloße Gedanke daran, einen fremden Menschen zu bitten, ihn bei sich aufzunehmen, machte ihm angst; aber was blieb ihm übrig? Im Wald zu schlafen wie ein wildes Tier?
Als er sich durch ein Grüppchen angetrunkener Bauern schlängelte, die über die Vorteile einer spät im Jahr vorgenommenen Schafschur stritten, wäre er beinahe über eine dunkle Gestalt gestolpert, die unter dem hin- und herschwingenden Gasthausschild an der Mauer hockte. Ein rundes, rosiges Gesicht mit kleinen dunklen Augen sah zu ihm auf. Simon gab ein paar gemurmelte Laute der Entschuldigung von sich und wollte schon weitergehen, als ihm plötzlich eine Erinnerung kam.
»Ich kenne Euch!« sagte er zu der zusammengekauerten Gestalt, die wie erschreckt die dunklen Augen aufriß. »Ihr seid der Mönch, den ich auf der Mittelgasse kennengelernt habe! Bruder … Bruder Cadrach.«
Cadrach, der einen Moment ausgesehen hatte, als wolle er sich auf Händen und Knien davonmachen, kniff die Augen zusammen und musterte nun seinerseits Simon mit scharfem Blick.
»Erinnert Ihr Euch nicht?« fragte dieser aufgeregt. Der Anblick eines bekannten Gesichtes stieg ihm zu Kopf wie Wein. »Mein Name ist Simon.« Ein paar von den Bauern drehten sich um und schauten mit trüben Augen gleichgültig zu ihnen hinüber. Simon durchzuckte jähe Furcht, als ihm einfiel, daß er auf der Flucht war. »Mein Name ist Simon«, wiederholte er leiser.
Ein Ausdruck des Erkennens, in dem noch etwas anderes lag, trat auf das runde Gesicht des Mönches. »Simon! Aber natürlich, Junge! Und was führt dich aus dem großen Erchester ins elende, kleine Flett?« Mit Hilfe eines langen Stockes, der neben ihm an der Mauer gelehnt hatte, stand Cadrach auf.
»Ach … hm…«, antwortete Simon verdutzt.
Was hast du nun schon wieder angerichtet, du Tölpel – dich mit Leuten, die du kaum kennst, in ein Gespräch eingelassen! Denk nach, Mondkalb! Morgenes hat sich solche Mühe gegeben, dir klarzumachen, daß es hier nicht um ein Spiel geht. »Ich hatte einen Auftrag … für jemanden in der Burg…«
»Und da hast du beschlossen, das bißchen Geld zu nehmen, das dir übrigblieb, und in dem berühmten ›Drachen und Fischer‹ Rast zu machen«, Cadrach verzog das Gesicht, »und eine Kleinigkeit zu dir zu nehmen.« Bevor Simon ihn aufklären oder sich auch nur entscheiden konnte, ob er das wollte, fuhr der Mönch fort: »Was du aber tun solltest, ist, das Abendessen mit mir gemeinsam einzunehmen und mich die Rechnung bezahlen zu lassen – nein, nein, Junge, ich bestehe darauf! Es ist nicht mehr als gerecht, so freundlich, wie du dich einem Fremden gegenüber erwiesen hast.« Simon brachte kein Wort heraus, und schon hatte Bruder Cadrach ihn am Arm gepackt und in den Schankraum gezogen.
Einige Gesichter wandten sich ihnen zu, als sie eintraten, aber niemand ließ den Blick länger auf ihnen ruhen. Der Raum war langgestreckt und niedrig und auf beiden Seiten von Tischen und Bänken gesäumt, die so weinfleckig, altersschwach und zerschnitten waren, daß nur die eingetrocknete Soße und das Fett, mit denen sie überreich bespritzt waren, sie zusammenzuhalten schienen. Ein rußiger, schwitzender Bauernjunge drehte eine Rinderkeule am Spieß und zuckte zurück, als das tropfende Fett die Flammen zum Aufzischen brachte. Für Simon sah dies alles wie im Himmel aus und roch auch so.