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»… darum ist es seltsam, wenn man bedenkt, daß gerade die Verfasser der Lieder und Geschichten, die Johans glänzenden Hof unterhielten, den König mit ihren Bemühungen, ihn in etwas Überlebensgroßes zu verwandeln, eher kleiner machten, als er wirklich war.«

Beim ersten Durchlesen, als er den Text Wort für Wort entzifferte, verstand er überhaupt nichts; aber beim zweiten Mal trat der Tonfall von Morgenes' Redeweise deutlich hervor. Simon hätte fast gelächelt und vergaß für einen Moment seine schreckliche Lage. Er begriff immer noch sehr wenig von dem, was er las, aber er erkannte die Stimme seines Freundes.

»Man betrachte zum Beispiel«, hieß es weiter, »seine Ankunft in Erkynland. Er stammte von der Insel Warinsten. Die Balladensinger behaupten immer, Gott habe ihn gerufen, den Drachen Shurakai zu erschlagen; er sei bei Grenefod gelandet, sein Schwert Hellnagel in der Hand, sein Sinn nur auf die große Aufgabe gerichtet.

Doch obwohl es durchaus möglich ist, daß ein gütiger Gott ihn herrief, das Land von dem schrecklichen Untier zu befreien, so bliebe doch zu klären, wieso Gott es zuließ, daß besagter Drache erst einmal lange Jahre das Land verwüstete, bevor er ihm eine Nemesis erstehen ließ. Und natürlich erinnerten sich die, welche Johan in jenen Tagen kannten, sehr wohl daran, daß er Warinsten als schwertloser Bauernsohn verließ und als ebensolcher unsere Küsten erreichte; und ebensowenig dachte er überhaupt an den Roten Lindwurm, bevor er fast ein Jahr in unserem Erkynland zugebracht hatte…«

Es war ungemein tröstlich, Morgenes' Stimme wieder zu hören, wenn auch nur im Kopf, aber der Inhalt des Absatzes verwirrte Simon trotzdem. Wollte Morgenes damit sagen, daß Johan der Priester den Drachen gar nicht getötet hatte, oder nur, daß Gott ihn nicht dazu auserwählt hatte? Wenn ihn aber unser Herr Usires im Himmel gar nicht auserkoren hatte, wie hatte er es geschafft, das Erzungeheuer zu besiegen? Hieß er beim Volk von Erkynland nicht ›der von Gott gesalbte König‹?

Während er so nachdenklich dasaß, blies ein kalter Wind durch die Bäume herab und überzog Simons Arme mit Gänsehaut.

Bei Ädons Buch, ich muß einen Mantel oder sonst etwas Warmes zum Anziehen haben, überlegte er. Und mir darüber klarwerden, wo ich hin will, anstatt hier herumzusitzen und wie ein Einfältiger über alten Schriften zu brüten.

Offensichtlich war sein Plan vom Vortag, nämlich sich unter einer dünnen Schicht von Anonymität zu verstecken und in irgendeiner Dorfschenke Spießdreher oder Scheuerjunge zu werden, ein Ding der Unmöglichkeit. Ob die beiden Wachen, denen er entkommen war, ihn erkannt hatten oder nicht, war nicht mehr die Frage; hatten sie es nicht getan, würde es bei nächster Gelegenheit ein anderer tun. Simon war überzeugt, daß Elias' Soldaten schon längst die Gegend nach ihm abkämmten. Schließlich war er nicht einfach ein entlaufener Diener, sondern ein Verräter und Schwerverbrecher. Schon mehrere Menschen hatten Josuas Flucht mit dem Leben bezahlt; wenn Simon der Erkyngarde in die Hände fiel, würde es kein Erbarmen geben.

Wie konnte er entkommen? Wo sollte er hin? Wieder fühlte er Panik in sich aufsteigen und versuchte sie zu unterdrücken. Morgenes' letzter Wunsch war es gewesen, daß er Josua nach Naglimund folgen sollte. Jetzt sah es tatsächlich so aus, als wäre das die einzig brauchbare Lösung. Wenn dem Prinzen die Flucht geglückt war, würde er Simon bestimmt gern aufnehmen. Wenn nicht, würden Josuas Lehnsleute ihm als Gegenleistung für Nachricht von ihrem Herrn sicher Zuflucht gewähren. Allerdings war es ein elend weiter Weg nach Naglimund. Simon kannte die Route und die Entfernung nur vom Hörensagen, aber niemand hatte sie je als kurz bezeichnet. Wenn er der Alten Forststraße weiter westwärts folgte, würde sie irgendwann die Weldhelmstraße kreuzen, die am Fuß des Gebirgszuges, nach dem sie benannt war, nach Norden führte. Wenn er den Weg zum Weidhelm fand, würde er zumindest in die richtige Richtung steuern.

Mit einem vom Saum seines Hemdes abgerissenen Streifen schnürte er die Papiere zusammen, rollte sie zu einer Röhre und umwickelte sie mit dem Stoff, den er an den Enden sorgfältig drehte und zuband. Dabei merkte er, daß er ein Blatt vergessen hatte; es lag ein wenig abseits, und als er es aufhob, sah er, daß es von seinem eigenen Schweiß verschmiert war. In den verwischten, unlesbar gewordenen Buchstaben war ein Satz unversehrt geblieben. Simon sprangen die Worte entgegen:

»… Wenn ihn überhaupt ein göttlicher Funke berührt hatte, so zeigte sich das am deutlichsten in seinem Kommen und Gehen, nämlich daran, daß er zur besten Stunde am rechten Platz war und daraus seinen Vorteil zog…«

Es war keine ausgesprochene Vorhersage oder Prophezeiung, aber es ermutigte Simon ein wenig und bestärkte ihn in seinem Entschluß. Nach Norden wollte er gehen – nordwärts nach Naglimund.

Für einen stachligen, schmerzhaften, unseligen Tagesmarsch im Windschatten der Alten Forststraße entschädigte ihn zum Teil eine glückliche Entdeckung. Als er so durch das Unterholz stelzte – gelegentliche Katen, die sich in Rufweite der Straße duckten, umging er –, erhaschte Simon durch eine Lücke im Mantel des Waldes einen Blick auf einen unermeßlichen Schatz: unbeaufsichtigte Wäsche. Das Auge fest auf die schäbige, mit Brombeergestrüpp gedeckte Hütte geheftet, die ein paar Schritte daneben stand, schlich er auf den Baum zu, dessen Äste mit feuchten Kleidern und einer stinkigen, triefendnassen Decke behängt waren. Sein Herz schlug hastig, als er einen wollenen Mantel herunterzog, der vor Feuchtigkeit so schwer war, daß Simon taumelte, als er ihm in die Arme glitt. Aus der Kate kam kein Alarm; tatsächlich sah es so aus, als sei niemand in der Nähe. Das gab Simon, ohne daß er einen Grund dafür wußte, ein noch viel übleres Gefühl wegen seines Diebstahls. Als er mit seiner Last in das Gewirr der Bäume zurückrannte, sah er vor seinem geistigen Auge wieder ein rohes Holzschild, das gegen eine Brust schlug, die nicht mehr atmete.

Die Sache war die, das merkte Simon schon sehr bald, daß das Leben eines Gesetzlosen ganz und gar nicht so aussah wie in den Geschichten von Hans Mundwald dem Räuber, die Shem ihm erzählt hatte. In seiner Phantasie war der Wald von Aldheorte eine Art endloser, hoher Saal mit einem Fußboden aus weichem Rasen und ragenden Baumstammsäulen gewesen, auf denen eine ferne Decke aus Blättern und blauem Himmel ruhte, ein luftiges Zelt, in dem Ritter wie Herr Tallistro von Perdruin oder der gewaltige Camaris auf stolzen Schlachtrossen einherritten und verzauberte Damen von einem entsetzlichen Schicksal erlösten. In unnachsichtiger, geradezu bösartiger Wirklichkeit gestrandet, mußte Simon feststellen, daß die Bäume am Waldrand sich eng aneinanderdrängten und ihre Äste verstrickten wie Schlangen in einem Gleitknoten. Schon das Unterholz war ein Hindernis, ein grenzenloses, buckliges Feld aus Dornranken und umgestürzten Stämmen, die fast unsichtbar unter Moos und faulenden Blättern lagen.

Wenn er sich in diesen ersten Tagen ab und zu auf einer Lichtung wiederfand und ein kurzes Stück ungehindert weitergehen konnte, gab ihm das Geräusch der eigenen Schritte, die auf den locker geschichteten Erdboden trommelten, das Gefühl, nackt zu sein. Er ertappte sich dabei, wie er im schrägen Sonnenlicht eilig über die Senken huschte und um die Sicherheit des Unterholzes flehte. Dieses Versagen seiner Nerven machte ihn so wütend, daß er sich zwang, die Lichtungen langsam zu überqueren. Manchmal sang er sogar tapfere Lieder und lauschte dem Echo, als sei der Ton seiner Stimme, die immer leiser wurde und schließlich in den alles dämpfenden Bäumen erstarb, das Natürlichste auf der Welt; aber kaum, daß er wieder im Unterholz angelangt war, hatte er zumeist vergessen, was er kurz zuvor gesungen hatte.