Obwohl sein Kopf noch voller Erinnerungen an sein Leben auf dem Hochhorst steckte, waren sie zu bloßen Gedächtnisfetzen verkommen, die immer entfernter und unwirklicher schienen und durch einen wachsenden Nebel aus Zorn, Verbitterung und Verzweiflung ersetzt wurden. Heimat und Glück hatte man ihm gestohlen. Das Leben auf dem Hochhorst war etwas Großartiges und Behagliches gewesen: die Menschen freundlich, die Unterbringung wunderbar bequem. Jetzt trampelte er Stunde um müde Stunde durch den verfilzten Wald und schwamm in Kummer und Selbstmitleid. Er fühlte, wie seine frühere Persönlichkeit langsam verschwand und ein immer größerer Teil seiner wachen Gedanken sich nur noch um zwei Dinge drehte: essen und weitergehen.
Zuerst hatte er lange gegrübelt, ob er der Schnelligkeit wegen die offene Straße einschlagen und eine Entdeckung riskieren durfte oder lieber versuchen sollte, im Schutz des Waldes neben der Straße herzugehen. Letzteres war ihm klüger vorgekommen, aber schon bald merkte er, daß Straße und Waldrand an manchen Stellen weit auseinanderklafften und es im dichten Gestrüpp des Altherz oft erschreckend schwer war, die Straße wiederzufinden. Zugleich sah er in peinlicher Verlegenheit ein, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man ein Feuer anzündet, etwas, an das er nie einen Gedanken verschwendet hatte, wenn er Shems Schilderungen vom schnurrigen Hans Mundwald und seinen Räuberbrüdern zuhörte, die an ihrer Waldtafel saßen und sich an gebratenem Wildbret labten. Ohne Fackel, die ihm den Weg beleuchtete, konnte er wohl nur eins tun: nachts, wenn der Mond schien, auf der Straße gehen. Dann würde er am Tag schlafen und die verbleibenden Stunden Sonnenlicht benutzen, um sich weiter durch den Wald zu plagen.
Keine Fackel, das bedeutete auch kein Kochfeuer, und das war in gewisser Weise das Schlimmste. Von Zeit zu Zeit fand er Gelege mit gefleckten Eiern, die Birkhennen in Verstecken aus ineinandergeflochtenem Gras verborgen hatten. Das war Nahrung für ihn, aber es fiel ihm schwer, die klebrigen, kalten Dotter zu schlürfen, ohne dabei an die warmen, duftenden Herrlichkeiten aus Judiths Küche zu denken und sich mit Bitterkeit an die Morgen zu erinnern, an denen er es so ungeheuer eilig gehabt hatte, zu Morgenes oder hinaus auf den Turnierplatz zu kommen, daß er große Klumpen Butter und mit Honig bestrichenes Brot unangerührt auf dem Teller liegengelassen hatte. Jetzt plötzlich war der Gedanke an einen Kanten mit Butter ein Traum vom Überfluß.
Simon, der nicht jagen konnte und wenig oder gar nichts davon verstand, welche Wildpflanzen man ohne schädliche Folgen essen konnte, fristete sein Leben dadurch, daß er die Gärten der in der Gegend lebenden Kätner plünderte. Mit wachsamem Blick auf Hunde oder zornige Bewohner stürzte er aus dem schützenden Wald hervor, um die armselig kargen Gemüsebeete zu fleddern, scharrte Karotten oder Zwiebeln aus der Erde oder pflückte ein paar Äpfel von unteren Zweigen – aber selbst diese mageren Speisen fand er selten und nur in großen Abständen. Oft hatte er beim Gehen solche Hungerkrämpfe, daß er vor Wut aufbrüllte und dem verfilzten Gestrüpp wilde Fußtritte versetzte. Einmal trat er so fest zu und schrie so laut, daß er vornüber in das Unterholz fiel und lange Zeit nicht aufstehen konnte. Er lag da, hörte, wie das Echo seiner Schritte verstummte und dachte, nun würde er sterben.
Nein, das Leben im Wald war nicht ein Zehntel so herrlich, wie er es sich an diesen längstvergangenen Nachmittagen auf dem Hochhorst ausgemalt hatte, als er im Stall gehockt, den Geruch von Heu und Zaumzeugleder eingeatmet und Shems Geschichten gelauscht hatte. Der mächtige Altherz war ein finsterer und geiziger Wirt, der Fremden keine Bequemlichkeit gönnen wollte. Simon versteckte sich in dornigem Gestrüpp, um die Sonnenstunden zu verschlafen, bahnte sich in der Dunkelheit unter dem im Netz der Bäume gefangenen Mond seinen feuchten, bibbernden Weg oder huschte in seinem herumschlotternden, viel zu weiten Mantel verstohlen durch die Gartenbeete – und wußte immer, daß er mehr Hase als Hund war.
Obwohl er die zusammengerollten Aufzeichnungen des Doktors immer mitschleppte und sich an sie klammerte wie an einen Amtsstab oder den gesegneten Baum eines Priesters, las er, während die Tage vergingen, immer seltener darin. Am dünnen Ende des Tages, zwischen einer erbarmungswürdigen Mahlzeit – falls es überhaupt eine gab – und der furchterregenden, ihn immer enger umschließenden Finsternis der Welt dort draußen öffnete er wohl das Bündel und las ein Stück von einer Seite, aber jeden Tag schien der Sinn der Worte ihm schwerer begreiflich. Eine Seite, auf der die Namen Johan, Eahlstan der Fischerkönig und Shurakai der Drache mehrfach vorkamen, erregte seine Eintagsfliegenaufmerksamkeit, aber nachdem er sie mühsam viermal durchgelesen hatte, erkannte er, daß sie nicht mehr Sinn für ihn ergab als die Jahresringe auf einem Stück Baumholz. An seinem fünften Nachmittag im Wald saß er, die Blätter im Schoß, nur noch da und weinte leise vor sich hin. Geistesabwesend streichelte er das glatte Pergament, so wie er vor unzähligen Jahren die Küchenkatze gekrault hatte, in einem warmen, hellen Raum, der nach Zwiebeln und Zimt roch…
Eine Woche und einen Tag nach den Ereignissen im »Drachen und Fischer« passierte er in Rufweite das Dorf Sistan, eine Siedlung kaum größer als Flett. Die Lehm-Zwillingskamine des Gasthauses rauchten, aber die Straße war leer, und die Sonne schien hell. Aus einer Gruppe Silberbirken spähte Simon von einer Anhöhe hinunter, und die Erinnerung an sein letztes warmes Essen versetzte ihm einen fast körperlichen Schmerz, so daß seine Knie schwach wurden und er um ein Haar gestürzt wäre. Jener längst verschollene Abend schien trotz seines unerfreulichen Abschlusses Morgenes' Beschreibung vom heidnischen Paradies der alten Rimmersgarder zu gleichen: ewiges Trinken und Geschichtenerzählen, fröhliches Feiern ohne Ende.
Er schlich den Hügel hinunter und auf das stille Gasthaus zu. Seine Hände zitterten, und er schmiedete wilde Pläne, wie er von einem unbewachten Fenstersims eine Fleischpastete stehlen oder durch eine Hintertür schlüpfen und die Küche plündern würde. Schon hatte er die Bäume hinter sich gelassen und war den halben Abhang hinuntergestiegen, als ihm jäh zu Bewußtsein kam, was er da tat: am schattenlosen Vormittag aus dem Wald herauszukommen wie ein krankes, fieberndes Tier, das den Selbsterhaltungstrieb verloren hat. Trotz seines dornenbesetzten Wollmantels fühlte er sich plötzlich nackt. Wie angewurzelt blieb er stehen, machte kehrt und rannte davon, den Abhang wieder hinauf und zurück zu den schwanenschlanken Birken. Jetzt schienen selbst sie ihm nackt zu sein; fluchend und schluchzend hastete er tiefer in die dichteren Schatten und hüllte sich in Altherz wie in einen Mantel.
Fünf Tage westlich von Sistan fand sich der schmutzstarrende, halbverhungerte Junge auf einem anderen Hang wieder, von dem er geduckt auf eine aus rohen Spaltholzbrettern gebaute Hütte schaute, die in einem engen Waldtal lag. Er wußte genau – jedenfalls so genau, wie es bei seinen so erbärmlich zerfetzten und bruchstückhaften Gedanken überhaupt möglich war –, daß ein weiterer Tag ohne richtiges Essen oder noch eine einsame Nacht in dem kalten, gleichgültigen Wald ihn tatsächlich und endgültig in den Wahnsinn treiben und ganz und gar zu dem Tier machen würden, als das er sich mehr und mehr fühlte. Seine Gedanken waren bereits dabei, abstoßend und viehisch zu werden: Fressen, dunkle Verstecke, müdes Durch-den-Wald-Stapfen, das war alles, was ihn noch interessierte. Immer schwerer fiel es ihm, sich an die Burg zu erinnern – war es dort warm gewesen? Hatte jemand mit ihm gesprochen? Als sich gestern ein Ast durch sein Wams gebohrt und ihm die Haut aufgerissen hatte, war er nur noch imstande gewesen, zu knurren und danach zu schlagen – ein Tier!