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Jemand … jemand wohnt hier…

Die Holzhauerhütte hatte einen mit säuberlichen Steinen eingefaßten Weg zur Vordertür. Unter dem Dachvorsprung an der Seitenwand lagerte ein Stapel gespaltener Holzscheite. Bestimmt, überlegte Simon, leise schnüffelnd, bestimmt würde man sich seiner erbarmen, wenn er an die Tür ginge und ganz ruhig um etwas zu essen bäte.

Ich bin so hungrig. Es ist nicht fair! Es ist ungerecht! Jemand muß mir zu essen geben … jemand…

Langsam, auf steifen Beinen, stieg er den Hügel hinunter. Sein Mund öffnete und schloß sich. Eine versagende Erinnerung an zwischenmenschliche Beziehungen warnte ihn, daß er dieses Landvolk, diese mißtrauischen Waldleute in ihrer von Bäumen umringten Kuhle nicht erschrecken durfte. Er hielt beim Gehen die leeren Handflächen ausgestreckt vor sich und spreizte die bleichen Finger als wortloses Zeichen seiner Harmlosigkeit.

Die Kate war entweder leer, oder die Bewohner reagierten einfach nicht, als er mit seinen zerschundenen Knöcheln anpochte. Er ging um das Häuschen herum und ließ die Fingerspitzen über das rohe Holz schleifen. Das einzige Fenster war mit einer breiten Planke versperrt. Wieder klopfte er, härter; nur ein hohles Echo antwortete.

Während er so unter dem verschalten Fenster hockte und sich verzweifelt fragte, ob er es vielleicht mit einem Stück Feuerholz aufbrechen könnte, ließ ihn ein raschelndes, schnappendes Geräusch aus der gegenüberstehenden Baumreihe vor Schreck so plötzlich in die Höhe fahren, daß sein Gesichtsfeld sich für einen Augenblick auf einen von Schwärze umgebenen Lichtkern verengte; er schwankte und fühlte sich übel. Der Baumzaun wölbte sich nach außen, als habe eine gewaltige Hand ihm einen Hieb versetzt, und sprang dann bebend zurück. Gleich darauf wurde die Stille von neuem zerrissen, diesmal durch ein sonderbares, abgehacktes Zischen. Dieses Geräusch verwandelte sich in einen rapiden Wortschwall – in keiner Simon bekannten Sprache, aber es waren dennoch Worte. Nach einem Augenblick der Erschütterung war die Lichtung wieder still.

Simon war wie zu Stein erstarrt; er konnte sich nicht rühren. Was sollte er tun? Vielleicht war der Bewohner der Hütte auf dem Heimweg von einem Tier angefallen worden … Simon konnte ihm helfen … dann würde man ihm etwas zu essen geben müssen. Aber wie konnte er helfen? Er konnte ja kaum gehen. Und was, wenn es ein Tier war, nur ein Tier – wenn er sich die Worte in diesem jähen Ausbruch von Lauten nur eingebildet hatte? Und was, wenn es etwas noch Schlimmeres war? Etwa die Wachen des Königs mit hellen, scharfen Schwertern oder ein zum Verhungern schlankes, weißhaariges Hexenwesen? Vielleicht der Teufel selber in glutroten Gewändern und mit Nachtschattenaugen?

Woher er den Mut und sogar die Kraft nahm, die steifen Knie zu strecken und auf die Bäume zuzugehen, konnte Simon nicht sagen. Hätte er sich nicht so krank und verzweifelt gefühlt, hätte er es gewiß nicht getan … aber er war nun einmal krank und verhungert und so schmutzig und einsam wie ein Nascadu-Schakal. Er zog sich den Mantel eng um die Brust, hielt die Rolle mit Morgenes' Schriften vor sich und humpelte auf das Gehölz zu.

Das Sonnenlicht sickerte ungleichmäßig durch die Bäume wie durch ein Sieb aus Frühlingsblättern und sprenkelte den Waldboden wie ein Schauer von Fithingstücken. Die Luft schien gespannt wie angehaltener Atem. Zuerst sah Simon nur dunkle Baumstämme und Splitter eindringenden Tageslichtes. An einer Stelle tanzten die Strahlen zuckend hin und her; gleich darauf erkannte Simon, daß sie eine sich windende Gestalt beschienen. Als er einen Schritt darauf zu machte, flüsterten die Blätter unter seinem Fuß, und bei diesem Geräusch hörte das Zappeln auf. Das hängende Wesen – es baumelte einen guten Meter über der schwammigen Erde – hob den Kopf und starrte ihn an. Es hatte das Gesicht eines Menschen, aber die unbarmherzigen Topasaugen einer Katze.

Simon sprang zurück, und auch das Herz in seiner Brust tat einen Satz. Er warf die Hände in die Luft und spreizte dabei die Finger so weit auseinander, als wollte er sich die Sicht auf den unheimlichen Galgenvogel dort vorn versperren. Was oder wer er auch sein mochte, er glich keinem Menschen, den Simon je gesehen hatte. Dennoch war etwas schmerzlich Bekanntes an ihm, wie aus einem halbvergessenen Traum – aber so viele von Simons Träumen waren jetzt Alpträume. Was für ein seltsames Bild! In einer grausamen Falle gefangen, um die Mitte und an den Ellenbogen von einer Schlinge aus schlangenartigem schwarzem Seil gefesselt und an einem schaukelnden Ast hängend, ohne die Erde berühren zu können, sah der Gefangene dennoch wild und trotzig aus – ein auf einen Baum gehetzter Fuchs, der mit den Zähnen in einer Jagdhundkehle sterben würde.

Wenn er ein Mensch war, dann ein sehr schlanker. Sein Gesicht mit den hohen Wangen und schmalen Knochen erinnerte Simon einen Augenblick – einen entsetzlichen, eiskalten Augenblick – an die schwarzgewandeten Wesen auf dem Thisterborg; aber sie waren bleich gewesen, weißhäutig wie Blindfische, während dieser hier goldbraun aussah wie polierte Eiche.

Um ihn in dem matten Licht besser betrachten zu können, machte Simon einen Schritt vorwärts; der Gefangene kniff die Augen zusammen, kräuselte die Lippen und fletschte mit katzenhaftem Fauchen die Zähne. Etwas in der Art, wie er das tat, etwas Nicht-Menschliches in seinem durchaus menschlichen Gesicht sagte Simon sofort, daß es kein Mann war, der hier hing wie ein gefangenes Wiesel … es war etwas anderes…

Simon war näher herangekommen, als klug war, denn als er nach oben in die bernsteingefleckten Augen starrte, schnellte sich der Gefangene nach vorn und stieß dem Jungen die beiden in Tuchstiefeln steckenden Füße gegen den Brustkorb. Simon hatte zwar das schnelle Zurückschwingen bemerkt und den Angriff erwartet, wurde aber trotzdem schmerzhaft in die Seite getroffen, so geschwind bewegte sich der Gefangene. Der Junge taumelte zurück und warf dem Angreifer einen wütenden Blick zu, der ebenso finster erwidert wurde.

Als er dem Fremden aus einer Entfernung von etwa Manneslänge ins Auge sah, beobachtete Simon, wie die irgendwie unnatürlichen Muskeln den Mund zur höhnischen Grimasse verzogen und der Sitha – denn als hätte es ihm jemand gesagt, hatte Simon mit einem Schlag begriffen, daß das herunterhängende Wesen genau das war – ihm in Simons Westerlingsprache ein einziges, mühsam hervorgebrachtes Wort zuzischte.

»Feigling!«

Simon war so erbost, daß er sich um ein Haar auf ihn gestürzt hätte, trotz seines verhungerten Zustandes, seiner Angst und seiner schmerzenden Glieder … bis er begriff, daß es genau das war, was der Sitha mit seinem merkwürdig betonten Spott erreichen wollte. Simon verdrängte den Schmerz in seinen getretenen Rippen, kreuzte die Hände über der Brust und starrte auf den gefangenen Sitha; er erlebte die grimmige Befriedigung, etwas zu sehen, das unzweifelhaft ein Sichwinden in ohnmächtiger Wut war.

Der Schöne, wie Rachel die Rasse immer abergläubisch bezeichnet hatte, trug ein fremdartig aussehendes, weiches Gewand und Hosen aus einem aalglatten, braunen Material, das nur einen Ton dunkler war als seine Haut. Gürtel und Schmuck aus schimmerndem grünem Stein bildeten einen wundervollen Gegensatz zu seinem Haar, das lavendelblau war wie Bergheidekraut und mit einem Knochenring eng am Kopf zusammengezogen, so daß es hinter dem einen Ohr als Pferdeschwanz herunterhing. Er schien kaum kleiner, aber erheblich schmaler als Simon zu sein; allerdings hatte der Junge sein Spiegelbild in letzter Zeit nur in trüben Waldtümpeln erblickt – vielleicht sah er inzwischen genauso mager und wild aus. Aber auch dann gab es Unterschiede, Dinge, die nicht völlig einzugrenzen waren: vogelähnliche Kopf- und Halsbewegungen, eine seltsame Flüssigkeit im Drehen der Gelenke, eine Aura von Macht und Beherrschung, die selbst jetzt zu spüren war, als ihr Besitzer wie ein Tier in dieser rohesten aller Fallen hing. Dieser Sitha, dieses Gespenst seiner Träume, war anders als alles, was Simon bisher gesehen hatte. Er war erschreckend und erregend … er war anders.