Als die Ungeheuerlichkeit dieser Erklärung des alten Mannes in Simons Kopf einzudringen begann, wurde ihm schwindlig. Die alte Burg schien ihm plötzlich bedrückend, ihre Felsenmauern kamen ihm wie ein Käfig vor. Er schauderte und blickte sich hastig um, als griffe jetzt, in dieser Sekunde, etwas Uraltes, Eifersüchtiges mit staubigen Händen nach ihm.
Morgenes lachte fröhlich – ein sehr junges Lachen für einen so alten Mann – und hüpfte vom Tisch herunter. Die Fackeln schienen ein wenig heller zu glühen. »Fürchte dich nicht, Simon. Ich denke – und wer, wenn nicht ich, sollte es wissen –, daß du den Zauber der Sithi nicht zu fürchten brauchst. Heutzutage nicht mehr. Die Burg ist vielfach verändert, Stein wurde auf Stein gesetzt und jede Elle von hundert Priestern kräftig gesegnet. Gewiß, Judith und ihre Küchenhelfer drehen sich vielleicht manchmal um und stellen fest, daß ein Teller mit Kuchen fehlt, aber ich glaube, das kann man mit einiger Logik eher gewissen jungen Männern zuschreiben als Kobolden…«
Eine kurze Folge von Klopftönen an der Zimmertür unterbrach den Doktor. »Wer ist da?« rief er.
»Ich bin's«, erwiderte eine kummervolle Stimme. Es folgte eine lange Pause. »Ich, Inch«, beendete die Stimme ihre Erklärung.
»Bei Anaxos' Gebeinen«, fluchte der Doktor, der exotische Ausdrücke bevorzugte. »Dann mach die Tür auf … ich bin zu alt, um herumzurennen und Narren zu bedienen!«
Die Tür schwang nach innen. Der vom Glühen des inneren Korridors eingerahmte Mann war wahrscheinlich groß, ließ aber den Kopf derart hängen und den Körper vornüberkippen, daß man es nicht mit Sicherheit angeben konnte. Unmittelbar über seinem Brustbein schwebte ein rundes, leeres Gesicht wie ein Mond mit einem Strohdach aus stachligem, schwarzem Haar, das man mit einem stumpfen und ungeschickten Messer geschnitten hatte.
»Tut mir leid, wenn ich … Euch gestört habe, Doktor, aber … aber Ihr habt gesagt, ›komm früh‹, sagtet Ihr nicht so?« Die Stimme war dick und zähflüssig wie triefender Speck.
Morgenes stieß einen ärgerlichen Pfiff aus und zupfte an einer Strähne seines weißen Haares. »Ja, das habe ich, aber ich sagte, früh nach der Essenszeit, die noch gar nicht gekommen ist. Nun, es hat keinen Sinn, dich jetzt wieder wegzuschicken. Simon, kennst du Inch, meinen Gehilfen?«
Simon nickte höflich. Er hatte den Mann ein paarmal gesehen; Morgenes ließ ihn manchmal abends kommen, wenn er Hilfe brauchte, wohl beim Heben schwerer Gegenstände. Anderes kam kaum in Frage, denn Inch machte nicht den Eindruck, als könne man sich darauf verlassen, daß er vor dem Schlafengehen das Feuer auspinkelte.
»Also dann, junger Mann, ich fürchte, das setzt meiner Geschwätzigkeit für heute ein Ende«, bemerkte der Doktor. »Da Inch nun einmal hier ist, muß ich auch Gebrauch von ihm machen. Komm bald wieder, dann erzähle ich dir mehr – wenn du willst.«
»Bestimmt.« Simon nickte Inch noch einmal zu, der die Augen nach ihm rollte wie eine Kuh, und war schon an der Tür, als ihm flammend eine jähe Vision durch den Kopf schoß: ein klares Bild von Rachels Besen, der da lag, wo er ihn fallen gelassen hatte, im Gras am Burggraben, wie der Leichnam eines seltsamen Wasservogels.
Mondkalb!
Er würde gar nichts sagen. Er würde auf dem Rückweg den Besen mitnehmen und dem Drachen sagen, es sei alles erledigt. Sie hatte so viel um die Ohren und redete auch nur selten mit dem Doktor, obwohl sie und er zu den ältesten Bewohnern der Burg gehörten. Ja, das war offensichtlich der beste Plan.
Ohne zu verstehen, warum, drehte Simon sich um. Der kleine Mann untersuchte gerade, über den Tisch gebeugt, eine gewundene Schriftrolle, während Inch hinter ihm stand und nur in die Luft stierte.
»Doktor Morgenes…«
Beim Klang seines Namens sah der alte Mann auf und blinzelte. Er schien erstaunt, daß Simon sich noch im Zimmer befand, und dieser war selber erstaunt darüber.
»Doktor, ich bin ein Dummkopf.« Morgenes wölbte die Brauen und wartete.
»Ich sollte Euer Zimmer ausfegen. Rachel hat mich damit beauftragt. Jetzt ist der ganze Nachmittag vorbei.«
»Oh. Ah!« Morgenes' Nase kräuselte sich, als jucke sie ihn. Dann zog ein breites Lächeln über sein Gesicht. »Mein Zimmer ausfegen, was? Gut, Junge, komm morgen wieder und mach das. Sag Rachel, ich hätte noch mehr Arbeit für dich, falls sie dich freundlicherweise entbehren könnte.« Er wandte sich wieder seinem Buch zu, sah dann erneut auf, kniff die Augen zusammen und biß sich auf die Lippen. Während er so in stillem Nachdenken dasaß, verwandelte sich Simons Hochgefühl plötzlich in Unruhe.
Warum starrt er mich so an?
»Wenn ich mir die Sache recht überlege, Junge«, sagte der Mann endlich, »wird es hier demnächst eine ganze Menge Arbeit geben, bei der du mir helfen könntest – und irgendwann werde ich auch einen Lehrling brauchen. Komm morgen wieder, wie ich gesagt habe. Über das andere will ich mit der obersten der Kammerfrauen reden.« Er lächelte kurz und beugte sich dann wieder über seine Schriftrolle. Simon merkte plötzlich, daß Inch ihn über den Rücken des Doktors anstarrte; unter der ruhigen Oberfläche seines käsigen Gesichts regte sich etwas Undeutbares. Simon machte kehrt und rannte aus der Tür. Voller Begeisterung sprang er den blau erleuchteten Gang hinunter und tauchte unter dem dunklen, wolkenverschmierten Himmel ins Freie. Lehrling! Beim Doktor!
Als er das Torhaus erreichte, machte er halt und kletterte zum Burggraben hinunter, um seinen Besen zu suchen. Die Heimchen waren schon mitten in ihrem Abendchoral. Als Simon den Besen endlich gefunden hatte, hockte er sich einen Augenblick an die Ufermauer und hörte ihnen zu.
Während ringsum der rhythmische Gesang aufstieg, ließ Simon die Finger über die Steine neben sich gleiten. Er strich über die Oberfläche eines Blocks, der so glattgescheuert war wie handpoliertes Zedernholz. Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf: Vielleicht steht dieser Stein schon seit … seit vor der Geburt unseres Herrn Usires an diesem Ort. Vielleicht hat hier in dieser Stille einmal ein Sithijunge gesessen und der Nacht gelauscht …
Woher kommt dieser leichte Wind?
Eine Stimme schien zu flüstern, die Worte zu leise zum Hören. Vielleicht ist er mit der Hand über genau diesen Stein gefahren … Und erneut dieses Flüstern im Wind: Wir holen es uns wieder, Menschenkind. Wir holen uns alles wieder.
Simon raffte seinen Mantelkragen eng gegen die unerwartete Kälte zusammen, stand auf und kletterte den grasigen Hang wieder hinauf. Er hatte plötzlich Sehnsucht nach vertrauten Stimmen und Licht.
III
Vögel in der Kapelle
»Beim gesegneten Ädon…«
Klatsch!
»… und Elysia, seiner Mutter…«
Klatsch!
»… und allen Heiligen, die da wachen über…«
Klatsch!
»… wachen über … autsch!« Ein Zischen ohnmächtiger Wut. »Verfluchtes Spinnenpack!« Das Klatschen begann von neuem, vermischt mit Verwünschungen und Beschwörungen. Rachel säuberte die Decke des Speisesaales von Spinnweben.
Zwei Mädchen krank, ein weiteres mit verstauchtem Knöchel – das war einer von den Tagen, an denen die Achataugen von Rachel dem Drachen so gefährlich glitzerten. Schlimm genug, daß Sarrah und Jael an der Ruhr darniederlagen – Rachel war eine harte Zuchtmeisterin, aber sie wußte, daß jeder Tag, den man ein krankes Mädchen weiterarbeiten ließ, drei Tage bedeuten konnte, die es am Ende dann doch länger ausfiel –, ja, schlimm genug auch, daß Rachel selber die Lücken stopfen mußte, die dadurch entstanden. Als ob sie nicht ohnehin schon für zwei arbeitete! Und nun erklärte der Seneschall, der König wolle heute abend in der Großen Halle speisen! Zudem war Elias, der Prinzregent, aus Meremund eingetroffen, und nun gab es noch mehr Arbeit!