Der Pfeil war nicht, wie Simon vermutet hatte, bemalt, sondern vielmehr aus einem Holz geschnitzt, das weiß war wie Birkenrinde, und mit schneeweißen Federn besetzt. Nur die aus einem milchig blauen Stein geschnittene Spitze besaß Farbe. Simon wog den Pfeil in der Hand und prüfte die – im Gegensatz zur erstaunlichen Biegsamkeit und Festigkeit überraschende – Leichtigkeit, und jäh stieg die Erinnerung an den vergangenen Tag wieder in ihm auf. Er wußte, daß er die Katzenaugen und beunruhigend schnellen Bewegungen des Sitha nie vergessen würde. Alle Geschichten, die Morgenes erzählt hatte, stimmten.
Überall auf dem Schaft des Pfeils waren schlanke Kringel, Schnörkel und Punkte mit unendlicher Sorgfalt in das Holz geprägt. »Er ist voller Schnitzereien«, überlegte Simon laut.
»Diese Pfeile sind von großer Bedeutung«, bemerkte der Troll und streckte schüchtern die Hand aus. »Bitte, wenn es erlaubt ist?« Simon, in einem neuen Anfall von Schuldgefühlen, reichte ihm hastig den Pfeil. Binabik hielt ihn nach allen Seiten und ließ Sonnen- und Feuerschein auf ganz bestimmte Art und Weise darauf fallen. »Dieser ist einer von den Alten.« Er kniff die schmalen Augen zusammen, bis die dunklen Pupillen völlig verschwanden. »Es gibt ihn schon seit beträchtlich langer Zeit. Du bist jetzt der Besitzer eines höchst ehrenvollen Gegenstandes, Simon: Der Weiße Pfeil wird nicht leicht verliehen. Es scheint, daß dieser hier in Tumet'ai gefiedert wurde, einer Festung der Sithi, die schon vor langer Zeit unter dem blauen Eis im Osten meines Heimatlandes verschwunden ist.«
»Woher weißt du das alles?« fragte Simon. »Kannst du die Buchstaben lesen?«
»Einige. Und es gibt noch andere Dinge, die ein geübtes Auge erkennen kann.«
Simon nahm den Pfeil wieder an sich, behandelte ihn jedoch weit achtsamer als zuvor. »Aber was soll ich damit anfangen? Du sagtest, er ist die Bezahlung einer Schuld?«
»Nein, Freund. Er ist das Zeichen einer Schuld, die noch unbeglichen ist. Was ich damit sagen will, ist, daß du den Pfeil gut aufbewahren solltest. Auch wenn er sonst keinen Zweck erfüllt, ist er doch köstlich anzuschauen.«
Über der Lichtung und dem Waldboden hinter ihr hing noch dünner Nebel. Simon lehnte den Pfeil mit der Spitze nach unten gegen den Baumstamm und rutschte näher ans Feuer. Binabik holte die Tauben aus der Glut, indem er sie mit zwei Stöcken in die Zange nahm, und legte eines der Bündel auf den warmen Stein vor Simons Knien.
»Entferne die gerollten Blätter«, belehrte ihn der Troll, »und warte dann eine kurze Zeitspanne, damit der Vogel ein wenig abkühlt.« Simon fiel es schwer, den letzten Worten zu gehorchen, aber irgendwie schaffte er es doch.
»Woher hast du sie eigentlich?« erkundigte er sich etwas später mit vollem Mund und vor Fett klebrigen Fingern.
»Ich zeige es dir nachher«, antwortete der Troll.
Binabik reinigte sich mit einem gebogenen Rippenknochen die Zähne. Simon lehnte sich am Stamm zurück und rülpste zufrieden.
»Mutter Elysia, das war wundervoll.« Er seufzte und hatte seit langer Zeit zum ersten Mal das Gefühl, die Welt sei doch kein ganz so feindlicher Ort. »Ein bißchen Essen im Bauch macht doch alles anders.«
»Ich freue mich, daß deine Heilung sich so einfach bewirken ließ«, lächelte der Troll rund um den dünnen Knochen.
Simon strich sich die Leibesmitte. »Im Augenblick ist mir alles unwichtig.« Sein Ellenbogen streifte den Pfeil, der umzukippen drohte. Simon hielt ihn fest und richtete ihn wieder auf. Dabei kam ihm ein Einfall. »Ich fühle mich sogar nicht mehr schlecht wegen … wegen des Mannes von gestern.«
Binabik richtete die braunen Augen auf Simon. Obwohl er fortfuhr, in seinen Zähnen herumzustochern, legte sich seine Stirn über dem Nasenrücken in Falten. »Du hast kein schlechtes Gefühl mehr, weil er tot ist, oder du hast keines mehr, weil du ihn tot gemacht hast?«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Simon. »Was meinst du damit? Worin liegt der Unterschied?«
»Das ist ein so großer Unterschied wie zwischen einem gewaltigen Felsen und einem ganz winzigkleinen Käfer – aber ich werde es dir überlassen, darüber nachzudenken.«
»Aber…« Simon war von neuem verwirrt. »Aber … er war ein böser Mensch.«
»Hmmmm.« Binabik nickte mit dem Kopf, aber die Geste deutete keine Zustimmung an. »Die Welt ist allerdings im Begriff, sich mit bösen Menschen zu füllen, daran kann es keinen Zweifel geben.«
»Er hätte den Sitha getötet!«
»Auch das ist eine Wahrheit.«
Simon starrte mürrisch auf den abgenagten Haufen Vogelknochen, der sich vor ihm auf dem Felsen stapelte. »Ich begreife dich nicht. Was möchtest du denn von mir hören?«
»Wohin du zu gehen beabsichtigst.« Der Troll warf seinen Zahnstocher ins Feuer und stand auf. Er war wirklich klein!
»Was?« Als Simon den Sinn der Worte des kleinen Mannes endlich verstanden hatte, schaute er ihn mißtrauisch an.
»Ich würde zu wissen wünschen, wohin du gehst, damit wir vielleicht ein Stück gemeinsam reisen können.« Binabik sprach langsam und geduldig wie mit einem geliebten, aber dummen alten Hund. »Ich denke, daß die Sonne vielleicht noch zu jung am Himmel ist, als daß man sich mit den anderen Fragen beschweren sollte. Wir Trolle sagen: ›Mach die Philosophie zu deinem Abendgast, aber lade sie nicht zum Übernachten ein.‹ Nun, falls meine Frage nicht von allzu neugieriger Beschaffenheit für dich ist, wohin willst du?«
Simon erhob sich mit Knien, die steif waren wie ungeölte Scharniere. Wieder befielen ihn Zweifel. Konnte die Neugier des kleinen Mannes wirklich so unschuldig sein, wie es den Anschein hatte? Schon mindestens einmal hatte er den Irrtum begangen, jemandem sein Vertrauen zu schenken, der es nicht verdiente – dem verfluchten Mönch. Andererseits, was hatte er für eine Wahl? Er brauchte dem Troll ja nicht alles zu erzählen, und auf jeden Fall war es vorteilhaft, mit einem in den Waldläuferkünsten erfahrenen Begleiter zu reisen. Der kleine Mann schien sich hervorragend auszukennen, und plötzlich sehnte sich Simon danach, wieder jemanden zu haben, auf den er sich stützen konnte.
»Ich will nach Norden«, sagte er und ging dann bewußt ein Risiko ein. »Nach Naglimund.« Er beobachtete den Troll scharf. »Und du?«
Binabik war damit beschäftigt, seine wenigen Gerätschaften in den Rucksack zu packen. »Letzten Endes werde ich wohl in den hohen Norden reisen«, antwortete er, ohne aufzublicken. »Es scheint, als fielen unsere Pfade ein gutes Stück zusammen.« Jetzt hob er die dunklen Augen. »Wie seltsam, daß du gerade nach Naglimund reisen willst, einer Feste, deren Namen ich in den letzten Wochen so häufig gehört habe.« Ein winziges, geheimnisvolles Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Wirklich?« Simon hatte den Weißen Pfeil aufgehoben und bemühte sich, gleichgültig auszusehen, so als überlege er nur, wie er den Pfeil befördern solle. »Und wo?«
»Zeit zum Reden wird sein, wenn wir unterwegs sind.« Der Troll grinste, ein breites, freundliches, gelbes Grinsen. »Ich muß Qantaqa rufen, die gewiß damit befaßt ist, Grauen und Verzweiflung unter den Nagetieren der Gegend zu verbreiten. Sei eingeladen, jetzt deine Blase zu leeren, damit wir dann geschwind ausschreiten können.«
Simon hielt den Weißen Pfeil zwischen zusammengebissenen Zähnen fest, während er Binabiks Rat befolgte.
XVIII
Ein Netz aus Sternen
Blasen an den wunden Füßen, die Kleider in Fetzen, stellte Simon trotzdem fest, daß die Last der Verzweiflung ein wenig leichter zu werden begann. Das Unglück hatte ihm an Geist und Körper übel mitgespielt, so daß Simon sich einen erschrockenen Blick und ein instinktives Zurückzucken angewöhnt hatte, was dem scharfen Blick seines neuen Gefährten nicht entgangen war. Aber das Grauen, das ihn bedrückte, war ein kleines Stück zurückgedrängt worden; zumindest für den Augenblick hatte es sich in eine weitere schmerzliche Halb-Erinnerung verwandelt. Die unerwartete Gemeinschaft half, den Schmerz um die verlorenen Freunde und die verlorene Heimat zu lindern – wenigstens soweit Simon das zuließ. Einen großen, geheimen Teil seiner Gedanken und Gefühle behielt er auch weiterhin für sich. Er war immer noch voller Mißtrauen und nicht bereit, sich auf Neues einzulassen und dabei vielleicht weitere Enttäuschungen in Kauf zu nehmen.