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Wasser will fließen bei Tohuqs Höhle, Glanzhimmelshöhle. Sedda will spinnen, dunkle Himmelsherr-Tochter, bleiche, schwarzhaarige Sedda.
Vogelkönig im Fluge auf Pfaden der Sterne, glanzhellen Pfaden, sieht sie nun, Sedda, Kikkasut sieht sie, schwört, daß sie sein wird.
›Gib deine Tochter mir, spinnende Tochter, Feinfaden spinnt sie.‹ Kikkasut ruft ihn. ›Ich will sie kleiden in leuchtende Federn!‹
Tohuq, er lauscht ihm, hört schöne Worte, reichen Vogelkönigs Worte. Denkt an die Ehre, gibt ihm nun Sedda, alter, gieriger Tohuq.

»Und so«, erklärte Binabik in seiner Sprechstimme, »verkauft der alte Himmelsherr Tohuq seine Tochter an Kikkasut, für einen herrlichen Federumhang, aus dem er die Wolken formen will. Und Sedda zieht mit ihrem neuen Gatten in sein Land hinter den Bergen und wird dort Königin der Vögel. Aber es gibt nicht viel Glück in dieser Ehe. Bald fängt Kikkasut an, sie nicht mehr zu beachten, kommt nur noch nach Hause, um zu essen und Sedda zu beschimpfen.« Der Troll lachte leise und wischte das Ende der Flöte an seinem Pelzkragen ab.

»Ach, Simon, das ist immer so eine lange Geschichte … jedenfalls geht Sedda zu einer weisen Frau, die ihr sagt, sie könnte Kikkasuts wanderndes Herz zurückgewinnen, wenn sie ihm Kinder schenken würde.

Mit einem Zauber aus Knochen und Trugblatt und schwarzem Schnee, den ihr die weise Frau gibt, kann Sedda dann auch empfangen, und sie gebiert neun Kinder. Kikkasut hört es und schickt ihr eine Botschaft, daß er kommen und sie ihr wegnehmen will, damit sie als Vögel aufwachsen, wie es sich gehört, und nicht von Sedda als nutzlose Mondkinder großgezogen werden.

Als sie das erfährt, nimmt Sedda die beiden jüngsten und versteckt sie. Kikkasut kommt und will wissen, was mit den beiden fehlenden geschehen ist. Sedda erzählt ihm, sie seien krank geworden und gestorben. Er verläßt sie, und sie verflucht ihn.«

Wieder sang der Trolclass="underline"

Fort flog nun Kikkasut. Sedda sitzt weinend, weint um Verlornes. Fort ihre Kinder, übrig nur blieben Lingit und Yana.
Himmelsherrn-Enkel, Mondfrauen-Zwillinge, heimlich und bleich: Yana und Lingit, versteckt vor dem Vater. Macht sie unsterblich.
Sedda sitzt trauernd; einsam, verraten sinnt sie auf Rache. Nimmt die Kleinode, Kikkasuts Gaben, webt sie zur Decke.
Berggipfelhöhen Sedda erklettert. Breitet die Decke zur Falle am Himmel für ihren Gatten, Dieb ihrer Kinder…

»Denn siehst du«, schloß der Troll, »Sedda wollte nicht, daß ihre Kinder Sterblichkeit besaßen und den Tod finden würden wie die Vögel und die Tiere der Felder. Sie waren ihr ein und alles…«

Binabik trillerte eine Melodie vor sich hin und wiegte dabei langsam den Kopf hin und her. Endlich legte er die Flöte zur Seite. »Es ist ein Lied von anstrengender Länge, aber es erzählt von hochwichtigen Dingen. Es berichtet weiter von den Kindern Lingit und Yana und ihrer Entscheidung zwischen dem Tod des Mondes und dem Tod der Vögel. Denn siehst du, der Mond stirbt zwar, aber er kehrt in seiner eigenen Person zurück. Die Vögel sterben und lassen ihre Jungen in den Eiern zurück, damit sie sie überleben. Yana, so glauben wir Trolle, wählte den Weg des Mondtodes und wurde die Matriarchin – ein Wort, das Groß-Mutter bedeutet –, die Matriarchin der Sithi. Die Sterblichen aber, ich und du, Simon-Freund, stammen von Lingit ab. Aber es ist ein langes, ein sehr langes Lied … möchtest du ein andermal mehr davon vernehmen?«

Simon gab keine Antwort. Das Lied vom Mond und die sanfte Berührung mit den Federschwingen der Nacht hatten ihn schnell in Schlaf sinken lassen.

XIX

Das Blut von Sankt Hoderund

Simon kam es vor, als würde sich sein Mund jedesmal, wenn er ihn öffnete, um zu sprechen oder auch nur tief Luft zu holen, mit Blättern füllen. So oft er sich auch bückte und duckte, er schaffte es nicht, den Zweigen auszuweichen, die nach seinem Gesicht zu greifen schienen wie gierige Kinderhände.

»Binabik!« jammerte er. »Warum können wir nicht wieder auf die Straße gehen? Ich werde in Stücke gerissen!«

»Beklage dich doch nicht so. Wir werden schon bald zur Straße zurücckehren.«

Es war aufreizend, dem kleinen Troll zuzuschauen, wie er sich behend durch das Gewirr von Zweigen und Ästen wand. Für ihn war es leicht zu sagen, »beklage dich doch nicht so«! Je dichter der Wald wurde, desto aalglatter schien Binabik zu werden. Anmutig schlüpfte er durch das dicke, alles umklammernde Unterholz, während Simon hinter ihm herprasselte. Sogar Qantaqa hüpfte leichtfüßig mit und hinterließ im Laubwerk hinter sich kaum ein Zittern. Simon fühlte sich, als klebe der halbe Altherz in Form von abgebrochenen Zweigen und kratzenden Dornen an seinem Leib.

»Aber warum tun wir das? Es dauert doch bestimmt nicht länger, am Waldrand der Straße zu folgen, als ich hier brauche, um mich zollweise durchzuwühlen?«

Binabik pfiff der Wölfin, die einen Augenblick außer Sicht geraten war. Sogleich trottete sie wieder herbei, und während der Troll wartete, bis Simon ihn eingeholt hatte, kraulte er den dicken Pelzkragen um ihren Hals.

»Du hast ungemein recht, Simon«, meinte er, als der Junge sich herangeschleppt hatte. »Wir könnten auf dem längeren Weg außen herum genauso schnell vorwärtskommen. Aber«, er hob einen kurzen, mahnenden Finger, »es gibt noch andere Dinge zu berücksichtigen.«

Simon wußte, daß er jetzt fragen sollte. Er tat es nicht, sondern blieb schnaufend neben dem kleinen Mann stehen und untersuchte seine neuerworbenen Hautrisse. Als der Troll merkte, daß Simon den Köder nicht schlucken wollte, lächelte er.

»›Warum?‹ fragst du neugierig. ›Was gibt es zu berücksichtigen?‹ Die Antwort liegt überall um dich herum, auf jedem Baum und unter allen Felsen. Fühle! Rieche!«

Simon schaute unglücklich nach allen Richtungen. Alles, was er sehen konnte, waren Bäume und Dornensträucher. Und noch mehr Bäume. Er stöhnte.

»Nein, nein! Hast du denn gar keinen Verstand mehr übrig?« rief Binabik. »Was hat man dir nur beigebracht in deinem klumpigen Ameisenhaufen aus Stein, in dieser … Burg.«

Simon sah auf. »Ich habe nie gesagt, ich hätte in einer Burg gelebt.«

»Es findet sich große Offensichtlichkeit in allen deinen Handlungen.« Binabik drehte sich hastig um und betrachtete den kaum wahrnehmbaren Hirschpfad, dem sie folgten. »Schau«, verkündete er mit dramatischer Stimme, »das Land ist wie ein Buch, das du lesen solltest. Jedes kleine Ding« – ein keckes Grinsen – »hat eine Geschichte zu erzählen. Bäume, Blätter, Moose und Steine – auf ihnen stehen Dinge von wundersamer Bedeutung…«

»O Elysia, nein«, ächzte Simon, sank zu Boden und ließ den Kopf auf die Knie fallen. »Bitte lies mir nicht ausgerechnet jetzt das Buch des Waldes vor, Binabik. Meine Füße schmerzen, und mein Kopf tut weh.«

Binabik beugte sich vor, bis sein rundes Gesicht nur wenige Zoll von Simons Stirn entfernt war. Nachdem er einen Augenblick das dornverfilzte Haar des Jungen gemustert hatte, richtete der Troll sich wieder auf.

»Ich vermute, daß wir hier in Ruhe rasten können«, sagte er und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. »Ich werde dir zu einem späteren Zeitpunkt von diesen Dingen berichten.«

»Danke«, murmelte Simon in seine Knie hinein.

Der Aufgabe, das Abendessen zu jagen, entzog sich Simon an diesem Tag durch ein einfaches Mitteclass="underline" sowie sie das Lager aufschlugen, war er auch schon eingeschlafen. Binabik zuckte nur die Achseln, nahm einen langen Zug aus dem Wassersack und einen ähnlich langen aus dem Weinschlauch und machte dann einen kurzen Rundgang durch die Umgebung, an seiner Seite Qantaqa als schnüffelnden Posten. Nach einer reizlosen, aber sättigenden Mahlzeit aus getrocknetem Fleisch warf er, Simons tiefes Atmen im Hintergrund, die Knöchel. Beim ersten Durchgang deckte er Flügelloser Vogel, Fisch-Speer und Pfad im Schatten auf. Beunruhigt schloß er die Augen und summte eine Weile tonlos vor sich hin, während das Geräusch der nächtlichen Insekten ringsum langsam zunahm. Als er zum zweiten Mal warf, hatten sich die beiden ersten Zeichen in Fackel am Höhleneingang und Scheuender Widder verwandelt, aber der Pfad im Schatten tauchte erneut auf, und die Knochen waren aneinandergeschichtet wie die Überreste der Mahlzeit irgendeines reinlichen Fleischfressers. Binabik, der nicht zu den Leuten gehörte, die aufgrund der Knochen übereilte Entschlüsse fassen – dazu hatte sein Meister ihn zu gut ausgebildet –, schlief trotzdem, als er endlich Ruhe fand, mit Stab und Rucksack in unmittelbarer Reichweite.