Auch wenn er sich mit seinem im Gebirge geborenen Begleiter nicht vergleichen konnte, fand er doch, daß er sich wacker schlug. Wer einige Schwierigkeiten hatte, war Qantaqa, nicht, weil sie nicht trittsicher gewesen wäre, sondern wegen einzelner steiler Abstiege – ein Kinderspiel, wenn man sich mit den Händen festhalten konnte –, die zum Herunterspringen zu hoch waren. Wenn sie sich in solch einer Lage befand, knurrte sie ein wenig, was jedoch eher ärgerlich als ängstlich klang, und trottete davon, um einen längeren Weg bergab zu suchen, bis sie dann, in der Regel schon nach kurzer Zeit, wieder zu ihnen stieß.
Als sie endlich einen vielfach gewundenen Hirschpfad entdeckten, der den letzten kleinen Hügel hinabführte, war die Nachmittagssonne schon unter die Himmelsmitte gesunken und stand ihnen warm im Nacken und hell im Gesicht. Eine lauwarme Brise fächelte die Blätter, war aber zu schwach, den Schweiß auf ihren Stirnen zu trocknen. Der Mantel, den Simon sich um die Mitte geknotet hatte, machte ihn so bauchlastig, als hätte er ein umfangreiches Mahl zu sich genommen.
Zu seiner Überraschung entschied sich Binabik, als sie endlich die oberen Wiesenhänge, den Anfang des Knochs, erreicht hatten, den Weg in nordöstlicher Richtung fortzusetzen, am Waldrand entlang, anstatt quer durch das flüsternde, sanft wogende Grasmeer zu gehen.
»Aber die Weldhelm-Straße liegt auf der anderen Seite der Berge!« wandte Simon ein. »Es ginge doch viel schneller, wenn wir…«
Binabik hob eine stämmige, kleine Pfote, und Simon verfiel in mürrisches Schweigen. »Es gibt ›schneller‹, Simon-Freund, und es gibt auch schneller«, erklärte er, und das fröhliche Wissen in seiner Stimme reizte Simon beinahe – aber doch nicht ganz – dazu, etwas Höhnisches und Kindisches, aber vorübergehend Befriedigendes, anzumerken. Als er den bereits geöffneten Mund sorgsam wieder zugemacht hatte, fuhr Binabik fort.
»Siehst du, ich habe gedacht, es wäre schön – eine Schönheit? eine Schönigkeit? –, heute abend an einem Ort ein wenig Rast zu halten, an dem du in einem Bett schlafen und an einem Tisch essen könntest. Wie findest du das, hmmm?«
Simons ganzer Groll verpuffte wie Dampf, der unter einem hochgehobenen Topfdeckel hervorquillt. »Ein Bett? Wollen wir in eine Herberge?« Shems Geschichte vom Puka und den drei Wünschen fiel ihm ein, und er begriff, wie es jemandem zumute war, dessen erster Wunsch in Erfüllung ging – bis er sich jäh an die Erkyngarde erinnerte und an den gehängten Dieb.
»Keine Herberge.« Binabik lachte über Simons Eifer. »Aber genauso gut ist es – nein, besser. Es ist ein Ort, wo man dir Essen gibt und dich ruhen läßt und niemand fragt, wer du bist oder woher du kommst.« Er deutete über den Knoch dorthin, wo die andere Seite des Waldes zurückwich, bis sein Außenrand schließlich am Fuß der Weldhelm-Vorberge endete. »Da drüben ist es, auch wenn man es von hier aus nicht sehen kann. Komm!«
Aber warum können wir nicht einfach den Knoch überqueren? grübelte Simon. Es sieht aus, als ob Binabik nicht so durch offenes Gelände laufen will … nicht so schutzlos.
Tatsächlich hatte der Troll einen nordöstlichen Pfad eingeschlagen und umging die große Wiese, um sich im Windschatten des Aldheorte zu halten.
Und was meinte er mit dem Ort, an dem niemand Fragen stellt … was immer das alles bedeuten mochte …? Versteckt er sich denn auch?
»Langsamer, Binabik!« rief er. Ab und zu flog Qantaqas weißes Hinterteil aus dem Gras auf wie eine Möwe über dem bewegten Kynslagh. »Langsamer!« wiederholte er und beschleunigte seine Schritte. Der Wind trug seine Worte sanft davon, den wellenförmigen Hang hinter ihm hinauf.
Als Simon den Troll endlich eingeholt hatte, stand die Sonne hoch auf ihren Rücken, und Binabik hob die Hand und klopfte ihm auf den Ellbogen.
»Vorhin war ich sehr scharf, sehr knapp mit dir. Es stand mir nicht zu, so zu reden. Meine Entschuldigungen.« Er schielte zu dem Jungen hinauf und schaute dann geradeaus, wo Qantaqas Schweif über dem schwankenden Gras wehte, bald hier, bald dort, das Banner eines kleinen, aber schnell marschierenden Heeres.
»Es gibt nichts zu…« fing Simon an, aber Binabik unterbrach ihn. »Bitte, bitte, Freund Simon«, erklärte er mit einem deutlichen Unterton von Verlegenheit in der Stimme, »es stand mir nicht zu. Sprich nicht mehr davon.« Er hob beide Hände an die Ohren und bewegte sie in einer wunderlichen Gebärde. »Laß mich dir lieber erzählen, wohin wir gehen – zu Sankt Hoderund am Knoch.«
»Wohin?«
»Zu dem Ort, an dem wir bleiben werden. Viele Male bin ich schon dort gewesen. Es ist ein Platz, an den man sich zurückzieht – ein Kloster, wie ihr Ädoniten sagt. Sie sind dort sehr freundlich zu Reisenden.«
Das war genug für Simon. Sofort schwirrte sein Kopf von Visionen langer, hoher Säle, gebratenen Fleisches und sauberer Strohsäcke – ein Delirium von Bequemlichkeiten. Er begann schneller zu laufen und beinahe in Trab zu verfallen.
»Rennen ist nicht vonnöten«, ermahnte ihn Binabik. »Es wird auch so auf uns warten.« Er blickte sich nach der Sonne um, die immer noch mehrere Stunden vom westlichen Horizont stand. »Soll ich dir von Sankt Hoderund erzählen? Oder weißt du schon alles?«
»Erzähl es mir«, bat Simon. »Ich weiß, daß es solche Orte gibt. Ich kenne jemanden, der schon einmal in der Abtei von Stanshire war.«
»Nun, dies hier ist eine Abtei von Besonderheit. Sie hat eine Geschichte.«
Simon hob die Brauen, bereit zum Zuhören.
»Ein Lied gibt es da«, erläuterte Binabik, »den Sang von Sankt Hoderund. Im Süden ist er viel bekannter als im Norden – mit dem Norden meine ich Rimmersgard und nicht meine Heimat –, und es ist offensichtlich, weshalb. Weißt du etwas über die Schlacht von Agh Samrath?«
»Das war, als die Nordleute, die Rimmersmänner, die Männer von Hernystir und die Sithi geschlagen haben.«
»Oho? Dann hast du also doch eine gewisse Erziehung genossen? Ja, Simon-Freund, es war Agh Samrath, das gesehen hat, wie Fingil Rothand die Heere der Sithi und Hernystiri vom Schlachtfeld trieb. Aber es gab noch andere, frühere Schlachten, und eine von ihnen hat hier stattgefunden.« Er machte eine Handbewegung über das wogende Feld neben ihnen. »Damals hatte dieses Land einen anderen Namen. Die Sithi, die es vermutlich am besten kannten, nannten es Ereb Irigú – Westliches Tor.«
»Und wer gab ihm den Namen ›der Knoch‹? Das klingt doch sehr komisch.«
»Ich weiß es nicht mit Gewißheit. Ich selbst glaube, daß der Name auf die Bezeichnung zurückgeht, welche die Rimmersmänner der Schlacht gaben. Sie nannten diesen Ort Du Knokkegard – den Knochengarten.«
Simon blickte zurück über das raschelnde Gras und beobachtete, wie sich Reihe um Reihe vor den Schritten des Windes neigte. »Knochengarten?« fragte er, und der kalte Finger einer Vorahnung berührte ihn.
Der Wind ist hier ständig in Bewegung, dachte er. Rastlos … als ob er etwas Verlorenes sucht…
»Knochengarten, ja. Auf beiden Seiten wurde diese Schlacht vorher vielfach unterschätzt. Die Grashalme hier wachsen auf den Gräbern von vielen tausend Männern.«
Tausende, wie auf dem Begräbnisplatz in Erchester. Noch eine Totenstadt unter den Füßen der Lebenden. Ob sie es wissen? fragte er sich plötzlich. Hören sie uns und hassen sie uns, weil wir … in der Sonne sind? Oder sind sie glücklicher, weil sie alles hinter sich haben?