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Und Simon, vor einer Stunde losgeschickt, um ein paar Bündel Binsen zu holen, war immer noch nicht zurück.

Da stand sie nun mit ihren müden, alten Knochen auf einem wackligen Hocker und versuchte mit einem Besen die Spinnweben aus den hohen Deckenwinkeln zu entfernen. Dieser Junge! Dieser, dieser …

»Heiliger Ädon, gib mir Kraft…«

Klatsch! Klatsch! Klatsch!

Dieser verflixte Bursche!

Es war ja nicht nur, überlegte Rachel später, als sie mit rotem Gesicht und verschwitzt auf den Hocker gesunken war, daß der Junge faul und schwierig war. All die Jahre hatte sie ihr Bestes getan, die Aufsässigkeit aus ihm herauszuklopfen; ganz bestimmt, das wußte sie, war er dadurch ein besserer Mensch geworden. Nein, bei der Guten Mutter Gottes, viel schlimmer war, daß kein anderer Mensch sich um ihn zu kümmern schien! Simon war so groß wie ein Mann und alt genug, um bald wie ein Mann arbeiten zu können – aber nein! Er versteckte sich und entzog sich und träumte vor sich hin. Die Küchenhelfer lachten über ihn; die Kammermädchen verwöhnten ihn und verschafften ihm heimlich Essen, wenn Rachel ihn vom Tisch verbannt hatte. Und Morgenes? Barmherzige Elysia, der Mann ermunterte den Jungen noch!

Jetzt hatte er Rachel sogar gefragt, ob Simon nicht kommen und täglich für ihn arbeiten könne – ausfegen, helfen, die Sachen sauberzuhalten – haha! –, und dem alten Mann ein bißchen von seiner Arbeit abnehmen. Als ob sie es nicht besser wüßte! Die beiden würden nur herumsitzen, während der alte Süffel Bier kippte und dem Jungen Gott-weiß-was für Teufelsgeschichten erzählte.

Trotzdem konnte sie nicht umhin, sein Angebot ernsthaft zu prüfen. Es war das erste Mal, daß überhaupt jemand nach dem Jungen gefragt hatte oder ihn gar haben wollte – er lief allen bisher eben immer nur so zwischen den Füßen herum! Und Morgenes schien wirklich zu glauben, er tue dem Jungen damit etwas Gutes…

Rachel sah zu den breiten Deckenbalken hinauf, ließ den Blick in die Schatten schweifen und blies sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie dachte an damals, an jene Regennacht, mit der alles angefangen hatte – wann war es, vor vierzehn, fast fünfzehn Jahren? Sie kam sich so alt vor, wenn sie daran zurückdachte. Dabei schien alles nur einen Augenblick her zu sein…

Tag und Nacht war der Regen heruntergeprasselt. Als Rachel vorsichtig über den schlammigen Hof ging, wobei sie mit der einen Hand den Mantel über dem Kopf, mit der anderen eine Laterne festhielt, trat sie in eine breite Wagenspur und fühlte, wie ihr das Wasser die Waden hinaufspritzte. Mit einem saugenden Laut kam ihr Fuß frei, aber ohne Schuh. Sie fluchte und hastete weiter. Sie würde sich den Tod holen, wenn sie in solch einer Nacht mit einem nackten Fuß herumlief, doch jetzt war keine Zeit, in Pfützen herumzustochern.

In Morgenes' Studierstube brannte Licht, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich Schritte näherten. Als er die Tür öffnete, sah sie, daß er schon im Bett gewesen war: Er trug ein langes, dringend ausbesserungswürdiges Nachthemd und rieb sich im hellen Lampenlicht benommen die Augen. Die zerwühlten Decken seines Bettes, das, umgeben von einer sich bedrohlich nach innen neigenden Palisade aus Büchern, am äußersten Ende des Zimmers stand, ließ Rachel an das Nest irgendeines scheußlichen Untiers denken.

»Doktor, kommt schnell!« rief sie. »Ihr müßt Euch beeilen!«

Morgenes starrte sie an und trat einen Schritt zurück. »Tretet ein, Rachel. Ich habe zwar keine Ahnung, welches nächtliche Herzklopfen Euch hergeführt hat, aber wenn Ihr schon einmal da seid…«

»Nein, nein, törichter Mann, es ist Susanna! Ihre Zeit ist gekommen, aber sie ist sehr schwach. Ich habe Angst um sie.«

»Wer? Was? Also gut. Nur einen Augenblick, ich suche meine Sachen zusammen. Was für eine furchtbare Nacht! Geht nur vor, ich hole Euch schon ein.«

»Aber, Doktor Morgenes, ich habe die Laterne für Euch mitge…«

Zu spät. Die Tür war zu, und Rachel stand allein auf den Stufen. Von ihrer langen Nase tropfte der Regen. Fluchend lief sie zurück in die Mägdekammern.

Es dauerte nicht lange, bis Morgenes die Treppen hinaufstampfte und sich das Wasser vom Mantel schüttelte. Von der Tür aus überschaute er das Bild mit einem einzigen Blick: auf dem Bett eine Frau mit abgewendetem Gesicht, hochschwanger, stöhnend. Dunkles Haar breitete sich über ihre Züge, und sie preßte mit schweißnasser Faust die Hand einer anderen jungen Frau, die neben ihr kniete. Am Fuß des Bettes stand Rachel mit einer älteren Frau.

Diese trat auf Morgenes zu, während er seine umfangreichen Überkleider abwarf.

»Nun, Elispeth«, sagte er ruhig. »Wie sieht es aus?«

»Nicht gut, fürchte ich, Herr. Ihr wißt, daß ich sonst allein damit fertiggeworden wäre. Sie müht sich seit Stunden, und sie blutet. Ihr Herz ist sehr schwach.« Bei diesen Worten trat auch Rachel näher.

»Hm, hm.« Morgenes bückte sich und wühlte in dem mitgebrachten Sack. »Bitte gebt ihr etwas hiervon«, sagte er zu Rachel und reichte ihr eine verkorkte Phiole. »Nur einen Schluck, aber achtet darauf, daß sie ihn auch zu sich nimmt.« Während er weiter in seiner Tasche suchte, zwang Rachel sanft die zusammengebissenen, zitternden Kiefer der Frau auf dem Bett auseinander und goß ihr ein wenig von der Flüssigkeit in den Mund. Mit dem Geruch von Schweiß und Blut, der den Raum erfüllte, mischte sich sofort ein stechendwürziger Duft.

»Doktor«, meinte Elispeth, als Rachel zurückkam, »ich glaube nicht, daß wir Mutter und Kind retten können – wenn wir überhaupt einen von beiden durchkriegen.«

»Ihr müßt das Leben des Kindes retten«, unterbrach Rachel. »Das ist die Pflicht aller Gottesfürchtigen. Der Priester sagt es. Rettet das Kind!«

Morgenes warf ihr einen gereizten Blick zu. »Ich werde Gott auf meine Weise fürchten, gute Frau, wenn es Euch nichts ausmacht. Wenn ich sie rette – und ich will nicht so tun, als könnte ich es –, kann sie immer noch ein zweites Kind bekommen.«

»Nein, das kann sie nicht«, knurrte Rachel wütend, »ihr Mann ist tot.« Und wenn einer das wissen mußte, dachte sie, dann Morgenes. Susannas Mann, der Fischer, hatte den Doktor oft besucht, bevor er ertrank – obwohl Rachel sich nicht vorstellen konnte, was die beiden miteinander zu bereden gehabt hatten.

»Ach was«, bemerkte Morgenes zerstreut, »sie kann ja durchaus noch einen anderen – wer war ihr Mann? Der Fischer?« Ein erschreckter Ausdruck trat auf sein Gesicht, und er eilte an das Bett. Erst jetzt schien er wirklich zu begreifen, wer da lag und auf dem groben Laken sein Leben ausblutete.

»Susanna?« fragte er leise und drehte das angstvolle, schmerzverzerrte Gesicht der Frau zu sich hin. Eine Sekunde lang öffnete sie weit die Augen, als sie ihn sah, dann ließ eine neue Welle von Todesqual ihre Lider wieder zufallen. »Was ist hier geschehen?« seufzte Morgenes. Susanna konnte nur stöhnen, und der Doktor sah mit zornigem Gesicht zu Rachel und Elispeth auf. »Warum hat mir niemand gesagt, daß dieses arme Mädchen so kurz vor der Geburt stand?«

»Sie wäre erst in zwei Monaten soweit gewesen«, antwortete Elispeth sanft. »Das wißt Ihr. Wir sind genauso überrascht wie Ihr.«

»Und warum sollte es Euch kümmern, wenn eine Fischerswitwe ein Kind bekommt?« fragte Rachel scharf. Auch sie konnte zornig sein.