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Ich weiß noch, wie Shem und Ruben den alten Rim töten mußten, den Akkergaul. Gerade bevor Rubens Hammer niedergesaust war, hatte Rim zu Simon aufgeschaut. Mit milden, aber wissenden Augen, hatte Simon gedacht. Wissend und doch gleichmütig.

Hat König Johan sich zum Schluß so gefühlt, reich an Jahren wie er war? Bereit zum Schlafengehen wie der alte Rim?

»Und es ist ein Lied, das jeder Harfner südlich der Frostmark dir vorsingt«, sagte Binabik. Simon schüttelte den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren, aber das Seufzen des Grases, das langgezogene Wispern des Windes klangen laut in seinen Ohren. »Ich, und vielleicht wirst du mir dafür Dank wissen, werde kein Lied singen«, fügte Binabik hinzu, »aber von Sankt Hoderund sollte ich dir doch erzählen, denn wir gehen ja sozusagen in sein Haus.«

Junge, Troll und Wölfin waren am östlichsten Teil des Knochs angekommen und änderten jetzt wieder die Richtung, so daß sie der Sonne die linke Seite zukehrten. Als sie durch das hohe Gras wateten, zog Binabik seine Lederjacke aus und knotete sich die Ärmel um die Mitte. Das Hemd, das er darunter trug, war aus weißer Wolle, locker gewebt und sackartig geschnitten.

»Hoderund«, begann er, »war ein Rimmersmann, der sich nach mancherlei Abenteuern zum ädonitischen Glauben bekehrte. Schließlich wurde er von der Kirche zum Priester eingesetzt. Es heißt, ein einzelner Stich ist erst dann von Bedeutung, wenn der Mantel auseinandergeht. Wir würden uns nicht darum kümmern, was Hoderund getan hat, davon bin ich überzeugt, wenn nicht König Fingil Rothand und seine Rimmersmänner den Grünwate-Fluß überschritten und damit zum ersten Mal den Boden der Sithi betreten hätten.

All das ist, wie die meisten Geschichten von Wichtigkeit, zu lang, um es in einer Stunde des Wanderns zu erzählen. Ich will darum derartige Erläuterungen vermeiden und nur dies sagen: Die Nordmänner hatten alles vor sich hergetrieben und auf ihrem Zug nach Süden mehrere Schlachten gewonnen. Die Hernystiri unter ihrem Prinzen Sinnach entschlossen sich, den Rimmersmännern hier an dieser Stelle entgegenzutreten«, wieder machte Binabik eine umfassende Handbewegung über die ganze Weite des sonnenspitzigen Graslandes, »um ihrem Ansturm ein für alle Mal Einhalt zu gebieten.

Die Menschen und Sithi flohen vom Knoch, weil sie fürchteten, zwischen den beiden Heeren zerrieben zu werden – alle flohen sie, außer Hoderund. Schlachten, dünkt mich, ziehen Priester an wie Fliegen, und so geschah es auch mit Hoderund. Er suchte Fingil Rothand in dessen Zelt auf und flehte den König an, sich zurückzuziehen und damit die Tausende von Leben zu schonen, die andernfalls verloren wären. In seiner – wenn ich es so sagen darf – Dummheit und zugleich Tapferkeit predigte er zu Fingil und erzählte ihm von Usires Ädons Worten, daß man seinen Feind in die Arme schließen und zum Bruder machen müsse.

Fingil, was nicht weiter erstaunlich ist, hielt ihn für einen Verrückten und war überaus angewidert, von einem anderen Rimmersmann solche Worte zu hören … Oho, ist das Rauch

Mit dem jähen Wechsel seines Erzählgegenstandes überraschte der Troll Simon, den Binabiks Geschichte in eine Art wandelnden Sonnenstichtraum gelullt hatte. Der Troll deutete zur anderen Seite des Knochs hinauf. Tatsächlich, hinter einer Reihe sanfter Hügel, deren entferntester anscheinend Zeichen von Urbarmachung trug, kräuselte sich ein dünner Rauchfaden. »Abendessen, denke ich«, grinste Binabik. Simon sperrte in ahnungsvoller Sehnsucht den Mund auf. Jetzt beschleunigte auch der Troll seine Schritte. Der dunkle Waldrand machte eine Biegung, und die beiden drehten sich erneut der Sonne zu.

»Wie gesagt«, nahm der Troll seine Erzählung wieder auf, »fand Fingil Hoderunds neue ädonitische Ideen äußerst abstoßend. Er befahl, den Priester hinzurichten, aber ein barmherziger Soldat ließ ihn entkommen.

Ans Weglaufen dachte Hoderund jedoch nicht. Als die beiden Heere endlich aufeinanderprallten, eilte er auf das Schlachtfeld, mitten zwischen Hernystiri und Rimmersgarder, schwang seinen Baum und rief den Frieden des Usires-Gottes auf sie alle hernieder. Eingeklemmt zwischen zwei wütenden heidnischen Heeren wurde er schnell ganz und gar totgeschlagen. So.«

Binabik schwenkte seinen Stab und schlug auf einen hohen Grasbuckel ein. »Eine Geschichte, deren Philosophie schwierig ist, hmmm? Wenigstens für uns Qanuc, die es vorziehen, das zu sein, was du heidnisch nennst, und zugleich das, was ich als lebendig bezeichne. Aber der Lektor in Nabban nannte Hoderund einen Märtyrer und gab in der Frühzeit von Erkynland diesem Ort den Namen einer Kirche und Abtei des Hoderund-Ordens.«

»War es eine furchtbare Schlacht?« wollte Simon wissen. »Die Rimmersgarder nannten den Ort ›Knochengarten‹. Die spätere Schlacht bei Agh Samrath war vielleicht blutiger, aber dort spielte auch Verrat mit. Hier auf dem Knoch galt es Mann gegen Mann, Schwert gegen Schwert, und das Blut strömte wie die Bäche der ersten Schneeschmelze.«

Die Sonne, tief über den Himmel heruntergerutscht, brannte ihnen mitten ins Gesicht. Die Nachmittagsbrise, die sich jetzt ernsthaft bemerkbar machte, bog das hohe Gras und warf die darüber schwebenden Insekten hoch in die Luft, in der sie tanzten wie winzige goldene Lichtblitze. Qantaqa kam querfeldein zurückgelaufen, und ihre Annäherung übertönte die sägende, zischende Musik der sich aneinander reibenden Halme. Der Junge und der Troll begannen eine lange Steigung hinaufzustapfen, umkreist von der Wölfin, die den dicken Kopf in der Luft schwenkte und erregt jappte. Simon beschattete seine Augen, konnte aber hinter der Erhebung nichts ausmachen als die Baumwipfel des Waldrandes. Er drehte sich um und wollte Binabik fragen, ob sie bald da wären, aber der Troll starrte im Gehen mit gerunzelten Brauen auf den Boden und konzentrierte sich auf irgend etwas, ohne Simon oder der wild umherspringenden Wölfin überhaupt Beachtung zu schenken.

Nachdem eine Weile schweigend vergangen war, unterbrochen nur vom Rauschen ihrer Schritte im schweren Gras und einem gelegentlichen aufgeregten Bellen Qantaqas, ermutigte Simons leerer Magen ihn dazu, noch einmal zu fragen. Kaum aber hatte er den Mund geöffnet, als Binabik zu seiner Überraschung in ein hohes, klagendes Lied ausbrach:

Ai-Ereb Irigú. Ka'ai shikisi aruya'a Shishei, shishei burusa'eya Pikuuru n'dai-tu.

Während sie auf den lichtgetränkten, windgewellten Berg hinaufstiegen, klangen Simon die Worte und die eigenartige Melodie in den Ohren wie ein Klagelied von Vögeln, wie ein verzweifelter Ruf aus den hohen, einsamen, niemals verzeihenden Räumen der Luft.

»Ein Sithi-Lied.« Binabik warf Simon einen wunderlich scheuen Blick zu. »Ich singe es nicht gut. Es spricht von diesem Ort, an dem die ersten Sithi von Menschenhand starben, an dem zum ersten Mal von Menschen, die auf Sithi-Boden kämpften, Blut vergossen wurde.« Während er zu Ende sprach, versetzte er Qantaqa, die ihn mit der breiten Schnauze ans Bein stieß, einen Klaps. »Hinik aia!« befahl er. »Sie riecht jetzt Leute und gekochtes Essen«, murmelte er entschuldigend.

»Was bedeutet das Lied?« fragte Simon. »Die Worte, meine ich.« Immer noch überlief ihn die Fremdartigkeit kalt, erinnerte ihn aber zugleich daran, wie groß die Welt wirklich war und wie wenig er selbst auf dem betriebsamen Hochhorst davon mitbekommem hatte. Klein, klein, klein fühlte er sich, kleiner als der kleine Troll, der da neben ihm herkletterte.

»Ich bezweifle, Simon, daß man die Worte der Sithi in den Sprachen der Sterblichen sangbar machen kann – so daß ihre Gedanken richtig weitergegeben werden. Noch schlimmer, es ist ja auch nicht die Sprache meines Geburtsortes, die wir miteinander sprechen, du und ich … aber ich kann es versuchen.«

Sie gingen ein Stück weiter. Qantaqa war es endlich langweilig geworden oder sie hatte es sich anders überlegt; sie hatte jedenfalls keine Lust mehr, ihre wölfische Begeisterung mit ihren begriffsstutzigen Begleitern zu teilen und war hinter dem Kamm der Anhöhe verschwunden.