»Das hier, glaube ich, kommt dem Sinn nahe«, meinte Binabik endlich und intonierte dann eher, als daß er sang:
Binabik lachte verlegen. »Siehst du, in den Waldläuferhänden eines Trolls wird das Lied aus Luft zu Worten aus Steinklumpen.«
»Nein«, entgegnete Simon, »zwar verstehe ich es nicht genau … aber ich empfinde etwas dabei.«
»Dann ist es gut«, lächelte Binabik, »aber kein Wort von mir kann sich mit den Liedern der Sithi vergleichen, vor allem nicht mit diesem. Ich habe gehört, daß es eines der längsten ist – und eines der traurigsten. Es heißt auch, Erlkönig Iyu'unigato habe es selber geschrieben, in seinen letzten Stunden, bevor er getötet wurde … getötet von … von … Aah! Schau, wir sind oben!«
Simon sah auf. Wahrhaftig, sie hatten das Ende der langen Steigung beinahe erreicht. Unter ihnen erstreckte sich das endlose Meer der dichtgedrängten Baumwipfel des Aldheorte.
Aber ich glaube nicht, daß er deshalb nicht weitergeredet hat, dachte Simon. Ich glaube, er wollte gerade etwas sagen, das er eigentlich nicht aussprechen sollte.
»Woher hast du gelernt, Sithi-Lieder zu singen, Binabik?« fragte er, als sie die letzten Schritte nach oben geklettert waren und nun auf dem breiten Rücken des Berges standen.
»Wir werden darüber reden, Simon«, antwortete der Troll und blickte um sich. »Aber jetzt sieh! Dort geht es hinunter nach Sankt Hoderund!«
Sie begannen, nur knapp einen langen Steinwurf weit unter ihnen, an den Berghang geklammert wie Moos, das auf einem uralten Baum wächst: ineinander verschlungene Reihen und Reihen in regelmäßigen Abständen gepflanzter, sorgfältig gepflegter Weinstöcke. Waagerecht in den Berg gehauene Terrassen, deren Kanten so abgerundet waren, als sei der Boden schon vor langer Zeit so geformt worden, trennten sie voneinander. Zwischen den Weinstöcken liefen Pfade, die sich genauso verschlungen den Hang hinunterzogen wie die Pflanzen selbst. Unten im Tal war, auf der einen Seite von diesem ersten kleinen Vetter der Weldhelm-Berge geschützt, auf der anderen von der dunklen Begrenzung des Waldes, ein ganzes Korbgeflechtmuster von Ackerland zu sehen, angeordnet mit der säuberlichen Symmetrie eines illuminierten Manuskriptes. In einigem Abstand, gerade noch hinter dem Vorsprung des Berges zu erkennen, lagen die kleinen Außengebäude der Abtei, eine rohgezimmerte, aber gut gepflegte Ansammlung hölzerner Schuppen sowie ein eingezäuntes Feld, im Augenblick leer von Schafen oder Kühen. Ein Tor, der einzige kleine Gegenstand in diesem mächtigen Teppich, der sich bewegte, schwang langsam hin und her.
»Folge den Pfaden, Simon, und bald werden wir essen und vielleicht auch einen kleinen Schoppen der Klosterlese zu uns nehmen.« Mit schnellen Schritten machte sich Binabik an den Abstieg. Gleich darauf bahnten er und Simon sich ihren Weg durch die Reihen, während Qantaqa die langsame Durchquerung des Weinberges durch ihre Gefährten verächtlich betrachtete, um dann einfach den Hang hinunterzuspringen und dabei über die gekräuselten Reben zu setzen, ohne einen einzigen Pfahl zu berühren oder eine Traube unter den großen Pfoten zu zerquetschen.
Simon eilte den steilen Pfad hinunter und achtete dabei auf seine Füße, denn er fühlte bei jedem langen Schritt, daß ihm die Fersen ein Stückchen wegrutschten. Auf einmal spürte er mehr, als er es sah, daß vor ihm irgend etwas war. Weil er dachte, der Troll sei stehengeblieben, um auf ihn zu warten, sah er mit sauerer Miene auf und wollte gerade bemerken, daß man Leuten, die nicht auf einem Berg großgeworden seien, ein wenig Erbarmen zeigen sollte, als sein Blick auf eine Alptraumgestalt fiel. Er stieß einen Angstschrei aus, verlor den Halt, stürzte rücklings auf sein Hinterteil und rutschte zwei Armlängen den Pfad hinunter.
Binabik hörte ihn, fuhr herum und rannte den Berg hinauf, wo er Simon unter einer großen, zerlumpten Vogelscheuche auf der Erde sitzend vorfand. Der kleine Mann betrachtete die Vogelscheuche, die schief von einem dicken Pfahl herunterhing, das rohe, angemalte Gesicht von Wind und Regen fast verwischt, und sah dann auf Simon, der dasaß und an seinen zerschundenen Handflächen sog. Binabik verbiß sich das Lachen, bis er dem Jungen aufgeholfen hatte. Mit seinen kleinen, starken Händen packte er Simons Ellenbogen und stemmte ihn auf die Füße. Dann aber konnte er sich nicht länger beherrschen. Er drehte sich um und setzte den Weg nach unten fort, hinter sich Simon, der erbost die Stirn runzelte, als die erstickten Laute der Erheiterung des kleinen Mannes zu ihm heraufdrangen.
Verbittert klopfte sich Simon den ärgsten Staub von der Hose und sah nach den beiden Päckchen in seinem Gürtel, Pfeil und Manuskript, um sich zu vergewissern, daß keines beschädigt war. Natürlich konnte Binabik nichts von dem am Kreuzweg aufgeknüpften Dieb wissen, aber er war immerhin dabeigewesen, als der Sithi in der Falle des Holzfällers hing. Warum war es dann so lächerlich, daß Simon einen Schreck bekommen hatte?
Simon kam sich sehr töricht vor, aber als er wieder auf die Vogelscheuche blickte, fühlte er trotzdem eine zitternde Vorahnung. Er griff nach oben, packte den leeren Sack, der den Kopf bildete – rauh und kühl fühlte er sich an –, faltete ihn zusammen und steckte den oberen Teil in den formlosen, zerlumpten Mantel, der die Schultern umschlotterte, so daß die trüben, blicklosen Augen versteckt waren. Sollte der Troll doch lachen.
Binabik, der sich wieder gefaßt hatte, wartete weiter unten. Er entschuldigte sich nicht, lächelte aber und gab Simon einen kleinen Klaps auf die Hand. Simon erwiderte das Lächeln, seines war jedoch schmaler als Binabiks.
»Als ich vor drei Monaten hier war«, sagte der Troll, »auf meinem Weg nach Süden, gab es das wundervollste Wild! Den Brüdern ist es erlaubt, einige wenige Hirsche aus dem königlichen Forst zu nehmen, um Wanderer zu erquicken – und sich selber, das braucht nicht weiter erwähnt zu werden. Ah, da ist es … und es steigt Rauch auf!«
Sie hatten die letzte Biegung des Berges umrundet; das klagende Geräusch des quietschenden Tores kam von direkt unter ihnen. Geradeaus am Fuß des Abhanges lagen die dichtgedrängten Strohdächer der Abtei. Und wirklich stieg Rauch auf, ein dünnes Wölkchen, das nach oben schwebte, sich im Gipfelwind drehte und auflöste. Aber es kam weder aus einem Schornstein noch aus einem Rauchfang.
»Binabik…«, sagte Simon, dessen Überraschung sich noch nicht in Alarm verwandelt hatte.
»Niedergebrannt«, flüsterte Binabik. »Oder noch brennend. Oh, Tochter der Berge!« Das Tor krachte zu und sprang sofort wieder auf. »Ein schrecklicher Gast ist in Sankt Hoderunds Haus gekommen.«
Auf Simon, der die Abtei noch nicht gesehen hatte, wirkte die rauchende Verwüstung dort unten wie Binabiks Geschichte vom Knochengarten selbst, die plötzlich lebendig geworden war. Wie in den schrecklichen, wahnsinnigen Stunden unter der Burg spürte er, wie sich die eifersüchtigen Klauen der Vergangenheit hervordrängten, um die Gegenwart an einen dunklen Ort der Reue und Furcht hinabzuzerren.
Von der Kapelle, dem Haupthaus des Klosters und dem größten Teil der Nebengebäude waren nur schwelende Ruinen übriggeblieben. Die verkohlten Dachbalken, deren Last aus Fachwerk und Stroh das Feuer verzehrt hatte, lagen entblößt unter dem spöttischen Frühlingshimmel wie die geschwärzten Rippen des Festmahls eines hungrigen Gottes. Ringsum verstreut lagen, wie von demselben Gott ausgewürfelt, die Leichen von mindestens zwanzig Männern, so lumpenpuppig und leblos wie die Vogelscheuche oben auf dem Berg.
»Bei Chukkus Eiern…«, hauchte Binabik mit noch immer weit aufgerissenen Augen und schlug sich sacht mit dem Daumenballen auf die Brust. Er machte einen Schritt nach vorn, zog den Rucksack von den Schultern und rannte den Berg hinab. Qantaqa bellte und machte Freudensprünge.