»Warte«, sagte Simon, und es war kaum ein Flüstern. »Warte!« schrie er und schwankte hinterher. »Was tust du? Sie werden dich umbringen!«
»Stunden ist das alt!« rief Binabik, ohne sich umzudrehen. Simon sah den Troll kurz innehalten und sich über den ersten Leichnam beugen, auf den er stieß. Gleich darauf trabte er weiter. Keuchend, mit trotz der offensichtlich zutreffenden Worte des kleinen Mannes vor Furcht jagendem Herzen, warf Simon im Vorbeilaufen einen Blick auf die Leiche. Es war ein Mann in schwarzem Gewand, dem Äußeren nach ein Mönch – sein Gesicht war ins Gras gedrückt und nicht zu sehen. Eine Pfeilspitze hatte sich gewaltsam den Weg durch seinen Nacken gebahnt. Fliegen liefen zierlich über das getrocknete Blut.
Ein paar Schritte weiter strauchelte Simon und stürzte. Mit den Handflächen fing er sich schmerzhaft auf dem Kiesweg ab. Als er sah, worüber er gestolpert war und die Fliegen bemerkte, die sich wieder auf den nach oben verdrehten Augen niederließen, mußte er sich heftig und qualvoll übergeben.
Als Binabik ihn fand, hatte Simon sich im Schatten eines Kastanienbaumes verkrochen. Der Kopf des Jungen nickte wie knochenlos, als Binabik ihm wie eine liebevolle, aber energische Mutter mit einem Grasbüschel die Galle vom Kinn wischte. Der Aasgestank war überall.
»Schlimm ist es. Schlimm.« Binabik berührte sanft Simons Schulter, wie um sicherzugehen, daß der Junge wirklich vorhanden war, hockte sich dann hin und kniff vor den letzten roten Strahlen des Sonnenlichtes die Augen zusammen. »Ich kann keinen Lebenden mehr finden. Meistens sind es Mönche, die Toten, in Klostergewänder gekleidet, aber es gibt auch andere.«
»Andere …?« Es war ein Gurgeln.
»Männer in Reisekleidung … Frostmarkmänner, die hier vielleicht eine Nacht rasten wollten, obwohl es recht viele zu sein scheinen. Manche tragen Bärte und machen mir den Anschein von Rimmersmännern. Es ist eine Rätselhaftigkeit…«
»Wo ist Qantaqa?« fragte Simon schwach. Er stellte fest, daß er sich merkwürdigerweise Sorgen um die Wölfin machte, die doch wahrscheinlich von ihnen dreien am wenigsten in Gefahr war.
»Rennen. Riechen. Sie ist sehr aufgeregt.« Simon stellte fest, daß Binabik seinen Stab auseinandergezogen und das Stück mit dem Messer in den Gürtel gesteckt hatte. »Ich frage mich«, meinte der Troll und starrte, während Simon sich endlich aufsetzte, in den emporsteigenden Rauch, »was die Ursache für all das ist. Räuber? Eine Art Schlacht aus Gründen der Religion – ich habe gehört, daß das bei euch Ädoniten nicht ungewöhnlich ist –, oder was sonst? Höchst sonderbar.«
»Binabik.« Simon räusperte sich und spuckte aus. Er hatte einen Geschmack im Mund wie die Stiefel eines Schweinehirten. »Ich habe Angst.« Irgendwo in der Ferne bellte Qantaqa, ein überraschend hoher Laut.
»Angst.« Binabiks Lächeln war fadendünn. »Angst solltest du auch haben.« Obwohl sein Gesicht klar und sorglos zu sein schien, lag eine Art betäubter Wehrlosigkeit hinter den Augen des Trolls. Das jagte Simon mehr Furcht ein als alles andere. Und da war noch etwas: eine Andeutung von Entmutigung, als ob das Schreckliche nicht völlig unerwartet gekommen wäre.
»Ich denke…«, begann Binabik, als Qantaqas Jappen sich plötzlich zu einem knurrenden Crescendo steigerte. Der Troll sprang auf. »Sie hat etwas entdeckt«, sagte er und zog den verblüfften Jungen mit einem kräftigen Ruck am Handgelenk in die Höhe. »Oder etwas anderes ist dabei, sie zu entdecken…«
Binabik rannte den Geräuschen nach, und Simon, in dessen Schädel Impulse von Flucht und Furcht durcheinanderzirpten wie Fledermäuse, stolperte hinterher. Im Laufen griff der Troll mit dem Finger in sein Blasrohr und steckte etwas hinein. Simon wußte – eine schwerwiegende, bedrohliche Erkenntnis –, daß es ein Dorn mit schwarzer Spitze war.
Sie rannten quer durch das Klostergelände, fort von der Verwüstung und durch den Obstgarten, immer auf die Laute von Qantaqas Mißvergnügen zu. Ein Schneesturm von Apfelblüten fiel um sie herum zu Boden, und der Wind stocherte und schob sich am Waldrand entlang.
Weniger als zehn Laufschritte in den Wald hinein fanden sie die Wölfin, das Nackenfell gesträubt und ihr Knurren so tief, daß Simon es bis in den Magen fühlen konnte. Sie hatte einen Mönch gestellt und gegen den Stamm einer Pappel gedrängt. Der Mann hielt seinen Brust-Baum hoch, als wollte er den Blitz des Himmels auf das widerspenstige Untier herunterrufen. Aber trotz seiner heroischen Haltung zeigten die krankhafte Blässe des Gesichtes und der zitternde Arm, daß er mit dem Erscheinen des Blitzes nicht wirklich rechnete. Seine vor Furcht noch weiter hervortretenden Augen waren auf Qantaqa geheftet; die beiden Neuankömmlinge hatte er überhaupt noch nicht bemerkt.
»… Aedonis Fiyellis extulanin mei…« Der breite Mund bewegte sich krampfhaft. Die Schatten der Blätter malten Flecken auf seinen rosa Schädel.
»Qantaqa!« rief Binabik. »Sosa!« Qantaqa grollte, aber ihre Ohren zuckten. »Sosa aia!« Der Troll schlug sich mit dem hohlen Stab auf den Schenkel, daß es knallte. Mit einem letzten zähnefletschenden Knurren ließ Qantaqa den Kopf sinken und trottete zurück zu Binabik. Der Mönch stierte Simon und den Troll an, als wären sie ebenso furchterregend wie das erregte Tier. Dann schwankte er ein wenig und stürzte rückwärts zu Boden. Er landete sitzend auf der Erde und zeigte den verwirrten Ausdruck eines Kindes, das sich verletzt und noch nicht begriffen hat, daß es weinen möchte.
»Usires der Barmherzige«, stammelte er endlich, als die beiden auf ihn zueilten. »Usires der Barmherzige, der Barmherzige…« Ein wilder Blick trat in seine Quellaugen. »Laßt mich in Ruhe, ihr heidnischen Ungeheuer!« schrie er und versuchte mühsam aufzustehen. »Mörderbande, heidnische Bastarde!« Seine Fersen rutschten ihm weg, und er setzte sich wieder hin und murmelte: »Ein Troll, ein mörderischer Troll…« Langsam sah er wieder rosig aus, die Farbe kehrte zurück. Er holte tief und krampfhaft Atem und machte dann ein Gesicht, als ob er nun wirklich losheulen wollte.
Binabik blieb stehen. Er packte Qantaqa am Hals und winkte Simon, weiterzugehen, wobei er sagte: »Hilf ihm.«
Simon näherte sich langsam und versuchte mit einiger Mühe, seine Gesichtszüge so zu ordnen, wie es sich für einen hilfreichen Freund gehört – und das, obwohl sein eigenes Herz ihm gegen den Brustkorb hämmerte wie ein Specht. »Es ist ja alles gut«, erklärte er. »Jetzt ist alles gut.«
Der Mönch hatte die Augen mit dem Ärmel bedeckt. »Alle habt ihr umgebracht, nun wollt ihr uns auch noch töten!« rief er, und in seiner Stimme, so erstickt sie sich auch anhörte, lag eher Selbstmitleid als Furcht.
»Ein Rimmersmann ist er«, bemerkte Binabik, »als ob man sich das nicht schon denken könnte, so wie er Qanuc verleumdet. Pfah.« Der Troll stieß einen angewiderten Laut aus. »Hilf ihm auf, Simon, wir wollen ihn ans Licht führen.«
Simon ergriff den knochigen, schwarzverhüllten Ellenbogen des Mannes und brachte ihn mühsam auf die Füße. Aber als er ihn zu Binabik leiten wollte, riß der Mann sich los.
»Was tust du da?« schrie er und tastete nach dem Baum auf seiner Brust. »Soll ich die anderen im Stich lassen? Nein, hebe dich von mir!«
»Die anderen?« Simon schaute fragend auf Binabik. Der Troll zuckte die Achseln und kraulte die Ohren der Wölfin. Qantaqa schien zu grinsen, als erheitere sie das Schauspiel.
»Leben noch andere?« fragte der Junge sanft. »Wir wollen dir helfen und ihnen auch, sofern wir können. Ich heiße Simon, und das ist mein Freund Binabik.« Der Mönch glotzte ihn mißtrauisch an. »Und Qantaqa hast du ja schon kennengelernt, denke ich«, fügte Simon hinzu und bedauerte sofort den schlechten Scherz. »Sag uns, wer du bist. Und wo sind diese anderen?«