Der Mönch, dessen Fassung zurückzukehren begann, musterte ihn mit einem langen, argwöhnischen Blick, um danach auch Troll und Wolf kurz zu beäugen. Als er sich wieder Simon zuwandte, war sein Gesicht etwas entspannter.
»Wenn du wirklich … ein guter Ädoniter bist und aus Wohltätigkeit handelst, so bitte ich dich um Vergebung.« Der Ton des Mönches war steif wie bei einem Menschen, der nicht gewöhnt ist, sich zu entschuldigen. »Ich bin Bruder Hengfisk. Ist dieser Wolf…«, er wandte den Blick ab, »… euer Gefährte?«
»Allerdings«, entgegnete Binabik streng, bevor Simon etwas antworten konnte. »Zu bedauern ist es, daß sie dich erschreckt hat, Rimmersmann, aber du wirst selber erkennen, daß sie dir nichts Übles getan hat.«
Hengfisk würdigte Binabik keiner Antwort. »Ich habe meine beiden Pfleglinge schon zu lange alleingelassen«, erklärte er, zu Simon gewandt, »ich muß wieder zu ihnen.«
»Wir begleiten dich«, erwiderte der Junge. »Vielleicht kann Binabik helfen. Er kennt sich mit Kräutern und anderen Dingen vorzüglich aus.«
Der Rimmersmann hob kurz die Brauen, wodurch seine Augen noch weiter hervorzutreten schienen. Sein Lächeln war bitter.
»Das ist ein freundlicher Gedanke, Junge, doch ich fürchte, irgendwelche … Waldkräuterumschläge können Bruder Langrian und Bruder Dochais nicht mehr helfen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging aufrecht unsicheren Beinen tiefer in den Wald hinein.
»So warte doch!« rief Simon ihm nach. »Was ist denn überhaupt in der Abtei geschehen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Hengfisk, ohne sich umzudrehen. »Ich war nicht dabei.«
Simon sah sich hilfesuchend nach Binabik um, aber der Troll machte keine Anstalten mitzukommen. Statt dessen rief er hinter dem humpelnden Mönch her: »Ach – Bruder Hängfisch?«
Wutschnaubend schoß der Mönch herum. »Mein Name ist Hengfisk, Troll!« Simon fiel auf, wie schnell ihm die Farbe ins Gesicht stieg.
»Ich habe nur Übersetzungsdienste für meinen Freund geleistet«, grinste Binabik sein gelbes Grinsen, »der nicht die Sprache von Rimmersgard spricht. Du sagst, du weißt nicht, was geschehen ist. Wo warst du denn, als man deine Brüder so furchtbar abschlachtete?«
Der Mönch schien schon im Begriff, etwas zurückzufauchen, griff dann aber nach seinem Baum und umklammerte ihn. Gleich darauf sagte er mit ruhigerer Stimme: »So komm mit und sieh. Ich habe keine Geheimnisse vor dir, Troll, oder vor meinem Gott.« Er stapfte davon.
»Warum hast du ihn wütend gemacht, Binabik?« flüsterte Simon. »Ist hier nicht schon genug Schlimmes geschehen?«
Binabiks Augen waren Schlitze, aber er hatte sein Grinsen nicht verloren. »Vielleicht bin ich unfreundlich, Simon, aber du hörtest seine Rede; du sahst seinen Blick. Laß dich nicht dadurch täuschen, daß er ein Heiligengewand trägt. Zu oft sind wir Qanuc in der Nacht aufgewacht und haben Augen wie Hengfisks auf uns herunterblicken sehen, und Fackeln und Äxte gleich daneben. Dein Usires Ädon hat diesen Haß nicht erfolgreich aus seinem nördlichen Herzen herausgebrannt.« Der Troll schnalzte Qantaqa zu, ihm zu folgen, und ging dem steifrückigen Priester nach.
»Aber hör dir doch selber zu!« sagte Simon und hielt Binabiks Blick fest. »Du bist ja auch voller Haß.«
»Ah.« Der Troll hob einen Finger vor sein jetzt ausdrucksloses Gesicht. »Aber ich behaupte auch nicht, daß ich an deinen – verzeih den Ausdruck – Kopfüber-Gott der Barmherzigkeit glaube.«
Simon holte Luft, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber.
Bruder Hengfisk drehte sich nur einmal um und nahm schweigend ihre Anwesenheit zur Kenntnis. Eine ganze Weile sagte er nichts. Das Licht, das durch das Laub sickerte, nahm schnell ab; schon bald war Hengfisks eckige, schwarzgewandete Gestalt kaum mehr als ein Schatten, der sich vor ihnen herbewegte. Simon war verblüfft, als er sich endlich umwandte und sagte: »Hier.« Der Mönch führte sie um das Ende eines großen umgestürzten Baumes herum, dessen freiliegende Wurzeln mehr als allem anderen einem gewaltigen Besen ähnelten – einem Besen, der die Einbildungskraft von Rachel dem Drachen zu heroischen, legendären Heldentaten angefeuert hätte.
Simons beiläufiger Gedanke an Rachel, dazu die Erlebnisse dieses Tages, brachten ihm einen so heftigen Anfall von Heimweh ein, daß er strauchelte und sich mit der Hand an der schuppigen Borke des gefallenen Baumes abstützte. Hengfisk kniete nieder und warf Äste auf ein kleines Feuer, das in einer flachen Grube glühte. Am Feuer lagen, jeder auf einer Seite von der umgestürzten Länge des Baumes geschützt, zwei Männer.
»Das ist Langrian«, erläuterte Bruder Hengfisk und deutete auf den rechten, dessen Gesicht weitgehend mit einem aus Säcken hergestellten, blutigen Verband bedeckt war. »Ihn fand ich als einzigen Überlebenden in der Abtei, als ich zurückkam. Ich glaube, Ädon wird ihn bald wieder zu sich nehmen.« Selbst in dem schwächer werdenden Licht konnte Simon feststellen, daß Bruder Langrians Haut, soweit sie noch sichtbar war, fahl und wächsern wirkte. Hengfisk warf noch einen Stock aufs Feuer. Binabik, ohne dem Rimmersmann ein einziges Mal in die Augen zu sehen, kniete neben dem Verwundeten nieder und begann ihn mit behutsamen Fingern zu untersuchen.
»Der dort ist Dochais.« Hengfisk zeigte auf den anderen Mann, der ebenso kraftlos wie Langrian dalag, jedoch keine äußeren Verletzungen zeigte. »Er war es, den ich suchen gegangen war, als er von seiner Vigilie nicht zurückkehrte. Als ich ihn nach Hause brachte – ihn trug –«, bitterer Stolz lag in Hengfisks Stimme, »fand ich bei meiner Heimkehr alle … alle tot.« Er schlug das Zeichen des Baumes über seiner Brust. »Alle außer Langrian.«
Simon setzte sich zu Bruder Dochais, einem dünnen, jungen Mann mit langer Nase und den blauen Kinnstoppeln der Hernystiri. »Was ist ihm geschehen? Was fehlt ihm?«
»Ich weiß es nicht, Junge«, antwortete Hengfisk. »Er ist wahnsinnig. Er hat sich irgendein Gehirnfieber zugezogen.« Der Mönch machte sich wieder auf die Suche nach Feuerholz.
Simon beobachtete Dochais eine Weile, bemerkte das mühsame Atmen und das leichte Beben der Augenlider. Als er sich umdrehte, um nach Binabik zu sehen, der gerade vorsichtig den Verband von Langrians Kopf abwickelte, schoß wie eine Schlange aus dem schwarzen Gewand vor ihm eine Hand hervor und packte ihn mit erschreckend kraftvollem Griff vorn am Hemd.
Dochais, noch immer mit geschlossenen Augen, hatte sich ganz steif gemacht und den Rücken derart gekrümmt, daß seine Mitte sich vom Boden hob. Sein Kopf war zurückgeworfen und wackelte ruckartig hin und her.
»Binabik!« schrie Simon, außer sich vor Entsetzen. »Er … er ist…«
»Aaah!« Die Stimme, die sich Dochais' gepreßter Kehle entrang, war rauh vor Qual. »Der schwarze Wagen! Seht, er kommt mich holen!«
Wieder schlug er um sich wie ein Fisch an Land, und bei seinen Worten fühlte Simon einen Schauder neu erwachenden Grauens.
Der Berggipfel … ich erinnere mich … und das Knarren schwarzer Räder … o Morgenes, was tue ich hier?
Eine Sekunde später, während Binabik und Hengfisk noch verwirrt von der anderen Seite der Feuergrube herüberstarrten, hatte Dochais Simon zu sich herangezogen, bis das Gesicht des Jungen die vor Furcht verzerrten Züge des Hernystiri fast berührte.
»Sie holen mich zurück!« zischte der Mönch, »zurück an … zurück an … diesen furchtbaren Ort!« Erschreckt öffneten sich seine Augen und starrten blind in Simons nur eine Handbreit entfernte eigene. Der Junge schaffte es nicht, sich aus dem Griff des Mönches loszureißen, obwohl jetzt Binabik neben ihm stand und zu helfen versuchte.
»Du weißt es!« schrie Dochais, »du weißt, wer es ist! Du bist gezeichnet, gezeichnet wie ich! Ich sah sie vorüberkommen, die Weißfüchse! Sie gingen durch meinen Traum. Weißfüchse! Der Meister hat sie geschickt, um unsere Herzen mit Eis zu überziehen und unsere Seelen mitzunehmen … auf ihrem schwarzen, schwarzen Wagen!«