»Nur, wenn du noch länger so dummes Zeug redest«, sagte Charity.
Gurk reagierte gar nicht darauf, und auch Charity selbst kamen ihre Worte unpassend vor.
Gurk hatte vermutlich recht, auch wenn er dabei außer acht ließ, daß das unglaubliche Tempo des Wiederaufbaus nicht allein ihr Verdienst war. Die Invasoren von Moron hatten die Erde nicht nur verwüstet, sondern den Überlebenden der fünfzigjährigen Besatzungszeit auch einen Technologieschub verpaßt, der die Erde regelrecht ins übernächste Jahrtausend katapultiert hatte. Auch wenn die Menschen den größten Teil der Technik, die sie benutzten, nicht einmal verstanden - sie benutzten sie.
Daß Charity jetzt hier oben stand und diese Unterhaltung rührte, war ein gutes Beispiel dafür: Sechsunddreißig Stunden Schlaf und ein Griff in den Zauberkasten einer Medizin, die der der Erde des zwanzigsten Jahrhunderts um eine Zehnerpotenz überlegen war, hatten genügt, ihre Verletzungen ausheilen zu lassen. Aber was sie gemeint hatte, war auch nicht der materielle Wiederaufbau. Gurk hatte recht: Die Stadt, die sie dort hinten errichtet hatten, hätte Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch das Prunkstück eines jeden Science-Fiction-Films abgegeben.
Aber darum ging es nicht.
Es spielte keine Rolle, ob sie zehn oder hundert neue Gebäude zu errichten imstande waren, ob eine oder zehn funkelnde Städte. Nicht, solange es Menschen wie Melissa und ihre Mutter gab, die zwanzig Meter unter diesen Städten um ihr Überleben kämpften, ohne daß die Bewohner der Städte darüber auch nur etwas von der Existenz dieser Menschen ahnten.
Die Welt würde nicht wieder dieselbe sein wie vor der Ankunft der Moroni, doch Charity würde sich auch nicht damit abfinden, auf einem Planeten zu leben, der zu einem Großteil nicht einmal mehr Ähnlichkeit mit jener Welt hatte, auf der sie geboren und aufgewachsen war, und der nun von Lebensformen beherrscht wurde, die aussahen, als entstammten sie ihren schlimmsten Fieberphantasien - und sich nur allzu oft auch so benahmen.
»Was machen wir falsch?« murmelte sie.
»Falsch?« fragte Hartmann.
»Drasko und dieser... Heydliß. Wir wollen doch dasselbe wie sie.«
Hartmann zuckte mit den Schultern. »Niemand mag Soldaten«, sagte er. »Sie brauchen uns, aber das heißt nicht, daß sie uns lieben müssen. War das früher anders?«
Wenn Charity ehrlich zu sich selbst war, lautete die Antwort nein. Sie schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie. »Ich war nie ein richtiger Soldat, weißt du. Ich habe ein Raumschiff geflogen. Damals war das... ein gewisser Unterschied.«
»Ja, ich weiß«, antwortete Gurk hämisch. »Damals brauchtet ihr keine Kampfschiffe.«
»Brauchen wir denn heute welche?« fragte Charity.
Gurk wollte antworten, doch Charity hob rasch die Hand und fuhr mit leicht erhobener Stimme und eine Spur schärfer fort: »Die Wahrheit. Ausnahmsweise, okay?«
»Habe ich dich je belogen, Charity?« fragte Gurk.
»Hast du jemals die Wahrheit gesagt?« gab Charity zurück. »Du bist nicht einfach nur zurückgekommen, Gurk. Fangen wir damit an: Wie lange bist du wirklich schon hier? Einen Monat? Ein Jahr? Oder die ganze Zeit über?«
»Ein paar Wochen«, gestand Gurk nach kurzem Zögern.
»Und du hast es nicht für nötig gehalten, vorbeizukommen und hallo zu sagen?« fragte sie.
»Oder uns zu warnen?« fügte Skudder hinzu.
»Ich war nicht ganz sicher, ob ich mich einmischen soll«, sagte Gurk. »Ehrlich gesagt, bin ich es immer noch nicht.«
»Dich nicht einmischen?« Skudder machte ein keuchendes Geräusch, von dem Charity annahm, daß es ein abfälliges Lachen sein sollte. »Ich schätze, das hast du bereits.«
»Ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie sie Net und die Kinder umbringen«, antwortete Gurk. Er zauberte noch ein paar Falten mehr auf seine Stirn, als ohnehin schon darauf waren, und blickte Hartmann vorwurfsvoll an. »Ich hätte mir eigentlich ein bißchen mehr Dankbarkeit gewünscht. Immerhin habe ich meinen Hals riskiert. Unter anderem.«
»Und dafür bin ich dir dankbar, Gurk«, antwortete Hartmann. »Aber das ändert nichts daran, daß Skudder recht hat. Du hättest uns warnen können. Verdammt noch mal, es wäre deine Pflicht gewesen! Weißt du, wie viele Menschen in den letzten beiden Tagen gestorben sind?«
»Nicht annähernd so viele, wie noch sterben werden, wenn ihr die Fremden nicht aufhaltet«, sagte Gurk leise. »Ihr wißt nicht, mit wem ihr es zu tun habt.«
Seltsam - aber Charity hatte immer mehr das Gefühl, daß sie es im Grunde doch wußte. Das Wissen war in ihr verborgen, irgendwo, so tief in ihrem Bewußtsein vergraben, daß sie es noch nicht greifen konnte, aber es war da.
»Dann sag es uns!« verlangte Skudder.
»Das darf ich nicht«, antwortete Gurk. »Es gibt Regeln. Ich bin nur als Beobachter hier und nicht, um Partei zu ergreifen.«
»Ich kann mich an Zeiten erinnern, da hast du ziemlich heftig Partei ergriffen«, antwortete Charity.
Sie hatte scharf klingen wollen, oder wenigstens vorwurfsvoll, doch ihre Stimme machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie klang einfach nur traurig. Vielleicht ein bißchen verbittert, aber mehr auch nicht.
»Das war damals«, erwiderte Gurk. »Heute ist die Situation anders. Das hier ist sozusagen eure Sache. Ich kann euch nicht helfen. Ich darf es nicht.« Plötzlich wurde seine Stimme schrill, nahm den Tonfall einer hysterischen Verteidigung an. »Ihr habt gesehen, was passiert, wenn ich mich einmische! Dieser zweite Angriff hätte nicht stattgefunden, hätte ich mich nicht eingemischt!« Er schüttelte zornig den Kopf. »Ich hätte gar nicht herkommen sollen! Man hat mich gewarnt, aber ich wollte ja nicht hören, ich Dummkopf!«
»Du willst uns also nicht helfen«, stellte Charity fest. Sie wußte, daß sie unfair war, aber sie hatte keine andere Wahl. »Dann beantworte mir wenigstens eine Frage, Gurk. Nur eine einzige.«
Gurk schwieg. Aber zumindest sagte er nicht gleich nein.
»Der Überfall gestern nacht«, sagte Charity. Sie warf Hartmann einen fragenden Blick zu. »Ich nehme an, die Schiffe sind vorher nicht auf den Radarschirmen aufgetaucht.«
»Nein«, bestätigte Hartmann. »Wären sie es, wären sie nicht bis hierher gekommen.«
Charity war nicht überrascht.
Ihre Erinnerungen waren mittlerweile vollkommen zurückgekehrt, und sie war sicher, sich das unheimliche Auftauchen der Rochenschiffe aus dem Nichts ganz bestimmt nicht nur eingebildet zu haben.
»Was war es?« fragte sie. »Ein Transmitter?«
Obwohl sie ihren Blick fest auf Gurk gerichtet hielt und nicht einmal in Skudders und Hartmanns Richtung sah, konnte sie regelrecht spüren, wie die beiden erbleichten. Fünf, zehn endlose Sekunden lang hielt Gurk ihrem Blick vollkommen ausdruckslos stand, dann schüttelte er knapp den Kopf.
»Nein. Es gibt keine Materietransmitter mehr. Ihr habt damals ganze Arbeit geleistet. Die Black-Hole-Bombe hat nicht nur die Verbindung nach Moron zerstört. Das gesamte Netz ist zusammengebrochen. Vielleicht für immer. Ich weiß nicht, ob wir es jemals wieder aktivieren können.«
»Wir?« fragte Skudder.
Gurk grinste. »Das wäre dann die zweite Frage.«
Skudder machte einen wütenden Schritt auf den Zwerg zu, aber Charity brachte ihn mit einer raschen Bewegung wieder zur Ruhe.