Dann war es vorbei. Schlagartig.
Charitys haltlose Rutschpartie endete knapp zwei Meter vor den Aufzugtüren. Überall rings um sie herum stürzten Männer zu Boden und rangen qualvoll und verzweifelt nach Luft. Nur die beiden Angreifer, geschützt durch ihre Anzüge, waren noch auf den Beinen. Einer von ihnen packte Gurk, der wie alle anderen zu Boden gefallen war, und zerrte ihn auf den Aufzug zu. Der andere Hüne folgte ihm rückwärts gehend, die Waffe im Anschlag.
Nicht, daß es nötig gewesen wäre. Niemand hier drinnen war noch auf den Beinen, geschweige denn in der Lage, die beiden anzugreifen. Selbst Skudder war auf die Knie gesunken und hatte beide Hände gegen den Hals geschlagen. Sein weit aufgerissener Mund schnappte verzweifelt nach Luft, die es nicht mehr gab.
Die beiden Fremden und Gurk verschwanden in der Liftkabine, und einen Sekundenbruchteil später verschwanden sie tatsächlich, zusammen mit der roten Einöde und dem falschfarbenen Himmel.
Charity war nicht sicher, ob sie wirklich sah, was passierte, oder ob ihre schwindenden Sinne ihr bereits einen Streich spielten, aber für einen winzigen, unendlich kurzen Moment schien sich die Wirklichkeit jenseits der Türen zu verbiegen, als würde die Welt sich in verschiedenen Richtungen zusammenfalten - Richtungen, von denen es mehrere überhaupt nicht gab -, bis Charity schließlich wieder auf das grau lackierte Metall der Aufzugkabine starrte. Die Türen begannen sich zu schließen.
Charity kämpfte mit aller Kraft darum, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Es war noch nicht vorbei. Es gab kein Loch mehr in der Wirklichkeit, durch das der Sauerstoff entwich, aber die wenigen Sekunden hatten bereits ausgereicht, um in der Kontrollzentrale ein Beinahe-Vakuum zu erzeugen.
Charitys Lungen schrien immer verzweifelter nach Luft. Ihre Trommelfelle knackten. Alles drehte sich um sie, und sie spürte, wie der Druck ihre Augen aus den Höhlen quellen ließ. Die Metallgitter der Klimaanlage explodierten funkensprühend, und irgendwo brach Feuer aus und erlosch augenblicklich wieder, als die Flammen keinen Sauerstoff bekamen.
Irgendwie gelang es Charity, bei Bewußtsein zu bleiben. Der rapide Druckabfall hatte sie nahezu taub werden lassen, so daß sich alles in unheimlicher Lautlosigkeit abzuspielen schien, doch sie sah zumindest, daß der Luftstrom aus den Klimaschächten Papier und Trümmerstücke durcheinanderwirbelte. Die Atmosphäre im Raum wies wieder Sauerstoff auf - vielleicht nicht mehr als auf dem Gipfel des Mount Everest, aber genug, um am Leben zu bleiben.
Charity konnte nicht sagen, wie lange es dauerte - wahrscheinlich nur Sekunden, allerhöchstens eine Minute -, bevor sich die blutigen Schleier vor ihren Augen lichteten und sie wieder das Gefühl hatte, mehr als nur Vakuum in ihre Lungen zu saugen.
Sie hatte heftige Schmerzen, nicht nur in der Brust, sondern praktisch überall, und ihr Kopf fühlte sich an, als wollte er jeden Augenblick explodieren. Als sie versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, brauchte sie drei Anläufe.
Skudder und Charity kamen praktisch im gleichen Moment auf die Füße. Der Indianer sagte irgend etwas, doch Charity sah nur, wie seine Lippen sich bewegten. Sie war jetzt nicht mehr taub, aber in ihren Ohren war nun ein dumpfes Rauschen und Hämmern, das jeden anderen Laut einfach verschluckte.
Charity schüttelte den Kopf und deutete mit beiden Zeigefingern auf ihre Ohren, und Skudder antwortete mit einem knappen Nicken. Wahrscheinlich erging es ihm nicht anders als ihr.
Hinter ihm bemühte sich Hartmann mit ungeschickten, aber hartnäckigen Bewegungen, sich auf die Knie hochzustemmen, und auch Drasko und der überlebende Techniker regten sich bereits wieder, so daß Charity als erstes zu den beiden reglos daliegenden Soldaten eilte.
Die Männer waren bewußtlos, aber noch am Leben. Der Angreifer hatte darauf verzichtet, sie zu töten, obwohl Charity wußte, daß er es mit der gleichen Mühelosigkeit gekonnt hätte, mit der er sie niedergeschlagen hatte. Aus irgendeinem Grund erschien ihr dieser Umstand wichtig, obwohl sie nicht sagen konnte, warum.
In das Rauschen und Hämmern in ihren Ohren mischte sich jetzt ein weiterer Laut: ein dünnes, an- und abschwellendes Singen, das sie trotz allem als das Heulen der Alarmsirene identifizierte.
Charity stand wieder auf und schaute sich um. Der Kommandoraum war vollkommen verwüstet. Die Hälfte der Monitore und Computer war ausgefallen oder zerstört, und der Tornado hatte alles, was nicht niet- und nagelfest war, durcheinandergewirbelt.
Der ganze Zwischenfall hatte weniger als fünf Sekunden gedauert, aber der Raum sah aus, als hätte eine zweistündige Schlacht darin getobt.
Jemand berührte Charity an der Schulter. Sie fuhr mit einer übertrieben heftigen Bewegung herum und blickte in Gouverneur Draskos Gesicht. Er bot einen furchtbaren Anblick. Die kleinen Äderchen in seinem Gesicht und seinen Augen waren geplatzt, so daß sein Teint jetzt dem Skudders glich, und er mußte sich beim Sturz verletzt haben, denn seine Unterlippe blutete heftig.
Seiner Mimik und den Lippenbewegungen nach zu schließen redete er nicht mit ihr, sondern schrie sie an, aber sie konnte immer noch nicht gut genug hören, um ihn zu verstehen.
Nicht, daß Charity besonderen Wert darauf gelegt hätte.
Trotzdem hob sie nach einer Sekunde die Hand, drückte ihre Nasenflügel zusammen und versuchte gleichzeitig mit aller Kraft, durch die Nase auszuatmen.
Der alte Trick, der ihr auf unzähligen Interkontinentalflügen geholfen hatte, funktionierte auch diesmaclass="underline" Ihre Trommelfelle knackten, und mit einem Mal konnte sie wieder hören. Das Gellen der Alarmsirene und Draskos Gebrüll vermischten sich zu einem solchen Lärm, daß sie das Gesicht verzog.
»Gouverneur, bitte!« sagte sie. »Wenn Sie es so machen wie ich, dann brauchen Sie nicht zu schreien. Und wir alle verlieren unser Gehör nicht sofort wieder.«
Drasko hatte offensichtlich kein Wort verstanden, denn er blickte sie nur verwirrt an, aber er tat ihr immerhin den Gefallen und hielt für einen Moment die Klappe, so daß sie ihm mit Gesten zu verstehen geben konnte, was sie meinte. Drasko tat, was Charity ihm bedeutete, und blickte sie dann noch erstaunter an.
»Das funktioniert ja wirklich«, sagte er.
Charity grinste. »Sie hätten öfter billige Pauschalreisen in Flugzeugen mit schlechtem Druckausgleich buchen sollen, dann würden sie alle diese Tricks kennen.«
Draskos Gesicht wurde noch verständnisloser, doch bevor er etwas sagen konnte, flogen die Aufzugtüren auf, und ein halbes Dutzend schwerbewaffneter Soldaten stürzte herein.
Charity erstarrte ebenso wie Skudder und Hartmann zur Regungslosigkeit. Die Männer hatten den Alarm gehört und vermutlich auch mitbekommen, daß hier drinnen irgend etwas nicht stimmte. Sie waren angespannt und auf alles gefaßt. Und Charity wußte aus Erfahrung, daß es nichts Gefährlicheres gab als Männer, die bewaffnet und nervös waren.
Drasko schien auch in dieser Hinsicht weniger Erfahrung zu haben, denn er fuhr herum und trat den Soldaten so ungestüm entgegen, daß einer der Männer tatsächlich erschrocken seine Waffe hob und auf den Gouverneur anlegte, ehe ihm klar wurde, wem er gegenüberstand. Drasko bemerkte es nicht einmal. Ehe der unglückliche Soldat auch nur einen Laut herausbringen konnte, fuhr er ihn an:
»Wo, zum Teufel, sind Sie gewesen? Wir sind überfallen worden! Wir hatten feindliche Eindringlinge hier! In der Kommandozentrale unserer stärksten Festung! Sie gehen hier nach Belieben ein und aus, und Sie -«
»Gouverneur.« Hartmann sprach nicht einmal sehr laut, doch in seiner Stimme war plötzlich ein Beiklang, der selbst Drasko zu beeindrucken schien, denn statt seine Tirade fortzusetzen, drehte er sich zu Hartmann um und blinzelte verwirrt.