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Charity hatte keine Ahnung.

Aber sie hätte in diesem Moment wahrscheinlich ihre rechte Hand für die Antwort auf diese Frage gegeben.

7

Das Geschöpf war riesig; zwei Meter groß, wenn nicht größer. Es sah nicht wirklich aus wie eine Ameise, ähnelte diesem irdischen Insekt aber hinlänglich genug, um diese Bezeichnung zu rechtfertigen: Es besaß ein schimmerndes Exoskelett aus Chitin, sechs Gliedmaßen, die je nach Bedarf als Beine oder auch Arme eingesetzt werden konnten, und einen dreieckigen Insektenschädel mit Antennen, riesigen Facettenaugen und schrecklichen Mandibeln. Der größte Unterschied zu seinen irdischen Verwandten jedoch war nicht sichtbar.

Individualität.

Das Geschöpf hatte ein Ich.

Und einen Namen.

»Was willst du?« wimmerte Charity.

Sie hatte Angst. Panik. Sie war sich vollkommen und jenseits aller Zweifel bewußt, daß sie träumte. Die Ameise war nicht real, so wenig wie die weiße Unendlichkeit, in der sie schwebte. Kias war in ihren Armen gestorben, vor acht Jahren, als der Tod aus dem Nichts sämtliche Moroni auf der Erde dahingerafft hatte. Skudder und sie hatten den Moroni mit eigenen Händen begraben, und Charity hatte - vielleicht zum erstenmal im Leben - am Grab eines Wesens geweint, das sie noch ein Jahr zuvor mit jeder Faser ihres Selbst bekämpft hatte.

Jetzt stand es vor ihr. Seine mörderischen Mandibeln bewegten sich und begleiteten jedes seiner Worte mit klickenden, reißenden Lauten, und in seinen faustgroßen Facettenaugen stand ein Leid, das hundertmal mehr schmerzte als alle Worte.

»Du hast uns getötet«, wisperte Kias. »So viele Milliarden. So viele, viele Milliarden.«

»Nein«, stöhnte Charity. »Das ist nicht wahr! Wir haben uns nur gewehrt!«

Es war sinnlos. Sie träumte. Sie wußte, daß es nicht Kias war, den sie gegenüberstand, und daß es nicht seine Worte waren, die sie hörte. Der Moroni war tot, und die Worte, die er zu ihr sprach, kamen in Wahrheit aus ihr selbst, aber das machte es nicht besser.

»So viele Milliarden«, beharrte Kias. »Hunderttausende von Welten, und auf jeder Milliarden von uns. Ihr hattet nicht das Recht dazu.«

»Wir hatten jedes Recht«, verteidigte sich Charity, doch es war sinnlos. »Ihr wolltet uns töten. Wir haben uns nur gewehrt.«

»So wenige von euch«, antwortete Kias. »Und so viele von uns. Ihr hattet nicht das Recht. Unsere Zivilisation erstreckte sich über ein Zehntel der Galaxis. Ihr habt sie zerstört.«

»Nein!« wimmerte Charity. »Das ist nicht wahr! Ihr habt uns angegriffen! Wir haben nur zurückgeschlagen!«

»Nicht ihr«, antwortete Kias.

Er kam näher, beugte sich über sie. Seine Facettenaugen wuchsen zur Größe von Monden heran, die das gesamte Universum über ihr ausfüllten. »Du!«

»Nein!« wimmerte Charity. »Das ist nicht wahr! So war es nicht.«

»Du allein«, beharrte Kias. »So viele Milliarden. Milliarden von Milliarden Leben. Und du allein hast sie ausgelöscht! Du ganz allein!«

Er kam näher.

Seine furchtbaren Mandibeln klappten auseinander, bereit, sie zu packen und ihr weiches Fleisch mit der schrecklichen, schneidenden Härte des Chitins zu zerreißen.

»Nein!« kreischte Charity.

Kias' Mandibeln berührten ihre Wange, und ein furchtbarer Schmerz explodierte in ihrem Gesicht. Sie schrie auf, schlug instinktiv zurück und setzte sich mit einem Ruck auf - und die graue Unendlichkeit rings um sie herum wurde zum kaum weniger grauen Zwielicht ihres nächtlichen Apartments...

Ihr Herz jagte. Sie war am ganzen Leib in Schweiß gebadet, und mit dem Hinübergleiten aus dem Schlaf ins Wachsein wich die Panik nicht zurück, sondern wurde für einen Moment eher schlimmer. Sie mußte mit aller Kraft dagegen ankämpfen, nicht sinnlos um sich zu schlagen und loszuschreien.

Noch etwas hatte sie aus dem Alptraum herüber in die Wirklichkeit verfolgt: Ihre rechte Wange brannte noch immer wie Feuer, und die Hand, mit der sie im Traum zurückgeschlagen hatte, pochte heftig.

Mit einer bewußten Willensanstrengung gelang es ihr, die Panik endgültig zurückzudrängen. Das graue Zwielicht ringsum gerann zu den vertrauten Umrissen ihres Apartments.

Sie war nicht allein. Vielleicht war es kein Traum gewesen. Jemand war bei ihr im Zimmer. Sie hörte kratzende, schabende Geräusche, und so etwas wie ein Stöhnen. Vielleicht auch das Schaben messerscharfer Chitinscheren. Ein Schatten bewegte sich in der Dunkelheit vor ihr. Irgend etwas Großes, Bedrohliches begann sich vor ihr aufzurichten, Kias, der ihr aus dem Alptraum heraus in die Wirklichkeit gefolgt war, aber plötzlich zu Skudder wurde, der sich benommen neben ihrem Bett aufrichtete und die linke Hand gegen Kinn und Lippen preßte. Zwischen seinen Fingern quoll hellrotes Blut hervor.

»Skudder?« fragte Charity verwirrt.

»Ganz sicher bin ich nicht«, antwortete er gepreßt. »Ich glaube, das war mein Name... bevor mich ein Elefant getreten hat. Darf ich aufstehen, oder kriege ich dann wieder was aufs Maul?«

Charity war kein bißchen zum Lachen zumute.

»Was... ist passiert?«

»Du hast mir eine verpaßt«, antwortete Skudder in quengeligem Tonfall. »Ich schätze, jetzt sind wir mehr als quitt. Ich habe etwas gut bei dir.«

Seine Worte ließen den brennenden Schmerz auf Charitys Wange neu aufflammen. Sie hob die Hand ans Gesicht und spürte, daß die Haut heiß war.

»Du hast mich geschlagen«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Meine einzige Chance, dir das eine oder andere heimzuzahlen«, nörgelte Skudder, während er sich geräuschvoll neben ihrem Bett aufrichtete. »Jedenfalls habe ich das bisher gedacht.« Er nahm die Hand vom Mund und betrachtete vorwurfsvoll abwechselnd Charity und das Blut, das auf seinen Fingern klebte. »Ich finde das unfair. Bisher konnte ich dich wenigstens im Schlaf ab und zu prügeln. Seit wann schlägst du zurück?«

»Was ist passiert?« fragte Charity.

Skudder wurde von einem Sekundenbruchteil auf den anderen todernst.

»Du hattest einen Alptraum«, sagte er. »Du hast geschrien. Ich habe dich ein paarmal geschüttelt, aber ich konnte dich nicht wachbekommen. Deshalb habe ich dich geohrfeigt. Ich dachte, es wäre die letzte Möglichkeit. Es tut mir leid.«

»Geschrien?« fragte Charity.

»Und wie. Ich wundere mich, daß nicht die ganze Basis zusammengelaufen ist«, erwiderte Skudder. »Was war los?«

Er fuhr sich noch einmal mit dem Handrücken über den Mund, betrachtete stirnrunzelnd das Blut, das aus seiner aufgeplatzten Lippe gequollen war, und setzte sich dann auf die Bettkante; wie es Charity vorkam, ein gutes Stück weiter weg, als notwendig gewesen wäre.

»Ein Traum«, antwortete sie. »Ich... hatte einen Alptraum. Er war nicht sehr schön.«

»Wie das Wort schon sagt«, entgegnete Skudder. Mehr nicht. Aber die Art und Weise, wie er sie ansah, war mehr als beredt. Es vergingen nur noch einige Sekunden, bis Charity zu erzählen begann; zuerst stockend, dann immer schneller, bis sie die Einzelheiten ihres Alptraums schließlich regelrecht hervorsprudelte, ohne damit innehalten zu können.

»Verrückt«, sagte Skudder, als Charity geendet hatte.

Sein Tonfall paßte allerdings noch sehr viel weniger als sein Blick zu seiner Wortwahl, und Charity schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht sicher«, sagte sie. »Es ist nicht das erste Mal, daß ich diesen Traum habe, weißt du? Nur war er noch nie so intensiv wie diesmal.«

Erst indem sie diese Worte aussprach, machte Charity sie zur Wahrheit. Es war nicht das erste Mal, daß sie diesen Traum träumte. Nur hatte sie sich bisher nie erlaubt, sich nach dem Erwachen daran zu erinnern.

»Es ist trotzdem nur ein Traum«, sagte Skudder. »Mehr nicht.« Seine Stimme klang beinahe beschwörend, und das mit gutem Grund.