Doch diese kurze Ablenkung reichte Charity. Sie warf sich nach links, schlug einen Haken und rannte geduckt auf das Wrack zu, hinter dem sich Gurk in Deckung gebracht hatte. Nur ein einziger Laserschuß zuckte in Charitys Richtung. Der Strahl streifte ihre Schulter, ließ ihren Körperschild zusammenbrechen und brannte eine schwarze Spur in ihre Jacke, verletzte sie aber nicht wirklich.
Dann hatte sie das Wrack erreicht und war in Sicherheit.
Die Frage war nur: Wie lange?
Die schwarzgepanzerten Gestalten stürmten heran; vielleicht nicht einmal besonders schnell, aber auf jeden Fall schnell genug. Und das rettende Gebäude lag noch gute dreißig oder vierzig Meter hinter ihnen - keine Chance, es zu erreichen. Und der brennende Schmerz in Charitys Oberarm erinnerte sie nachhaltig daran, wie gut die Fremden schossen.
Charitys Gedanken überschlugen sich. Sie hatte ein Funkgerät am Gürtel, aber es war vollkommen sinnlos, um Hilfe zu rufen. Der Funk war voller durcheinanderschreiender Stimmen, Befehle, Hilferufe, Verlust- und Siegesmeldungen.
Charity ersparte es sich, dem Geplärr eine weitere ungehörte Nuance hinzuzufügen, sondern griff nach ihrer Waffe und schoß auf eine der heranstürzenden Gestalten. Für eine knappe Sekunde erstrahlte der Angreifer in einem unwirklichen, grünen Licht, doch es erlosch, ohne daß die Gestalt auch nur ein bißchen langsamer wurde. Die Angreifer verfügten offenbar über Körperschilde, die weitaus leistungsfähiger waren als Charitys Modell. Sie begann sich zu fragen, ob es überhaupt irgend etwas gab, das diese Kerle nicht besser konnten.
»Wir müssen hier weg!« sagte Gurk.
Charity war nicht ganz sicher, aber vielleicht hörte sie nun zum erstenmal wirklich Angst in seiner Stimme.
Natürlich hat er recht, dachte Charity. Die Angreifer würden in ein paar Augenblicken heran sein. Aber wenn sie ihre Deckung verließen, würden diese Kerle ein Wettschießen auf Gurk und sie veranstalten, dessen Verlierer jetzt schon feststanden.
Charity ergriff ihre Waffe mit beiden Händen, zielte sorgfältig und feuerte erneut. Diesmal stach die dünne Nadel aus sonnenheißem Laserlicht präzise durch das verspiegelte Helmvisier eines Angreifers. Der schwarzgepanzerte Riese kam aus dem Tritt, fiel auf beide Knie und kippte dann wie in einer grotesken langsamen Verbeugung nach vorn.
Noch bevor er auf den Boden schlug, eröffneten seine Kameraden das Feuer, und Charity ließ sich hastig wieder hinter ihre Deckung gleiten. Das verbogene Metall über ihr glühte rot und Sekundenbruchteile später weiß auf, bevor es sich in dünnflüssige Schmelze verwandelte, die zischend an der Flanke des abgestürzten Jägers hinabfloß und Charity und Gurk dazu zwang, abermals ein Stück zurückzuweichen.
Auch die Waffen der Angreifer waren weitaus effektiver als die der Verteidiger. Charity machte diese ernüchternde Feststellung ohne Überraschung oder Schrecken, aber beinahe wütend. Es war einfach nicht fair!
»Keine gute Idee«, knurrte Gurk. »Jetzt sind sie erst richtig sauer.«
»Ja«, antwortete Charity. »Ich frage mich allmählich nur, auf wen.«
Hätte sie auch nur eine einzige Sekunde Zeit gehabt, über ihre eigene Frage nachzudenken, wäre die Antwort ganz klar gewesen. Aber sie hatte keine Sekunde. Die Angreifer hatten das Feuer zwar eingestellt, stürmten aber zweifellos weiter heran. Sie hatten gar keine andere Wahl mehr.
»Los!« befahl Charity.
Sie sprang auf, stieß Gurk grob herum und rannte gleichzeitig los.
Über ihnen explodierte ein weiteres Schiff am Himmel, doch Charity vermied es, sich davon zu überzeugen, zu welcher Seite es gehörte. Statt dessen warf sie einen gehetzten Blick über die Schulter, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie drei, vier, dann fünf mehr als zwei Meter große, mattschwarze Gestalten aus dem ausgebrannten Wrack erschienen und ihre Waffen auf Gurk und sie richteten.
Im nächsten Augenblick hämmerte ein doppelter, grellweißer Lichtblitz schräg vom Himmel herab in das Wrack hinein. Zwei oder drei der Angreifer glühten kurz auf und verschwanden, schienen sich in Nichts aufzulösen; die anderen stürzten mit brennenden Schutzanzügen zu Boden und rührten sich nicht mehr.
Nur einen Sekundenbruchteil später explodierte eine zweite Lasersalve auf der anderen Seite des Wracks. Ein Feuerwerk grellgrüner Lichtblitze antwortete darauf.
Charity schaute nach oben, während sie rannte, und erblickte einen pfeilförmigen Viper-Jäger, der mit flammenden Triebwerken über den Platz heranjagte. Die Laserschüsse prallten wirkungslos von seiner Panzerung ab, und dem Jäger blieb noch Zeit für eine dritte Energiesalve, ehe er über das Wrack hinwegjagte und in eine weit geschwungene Kehre einschwenkte, um zu einem neuerlichen Anflug anzusetzen.
Er führte die Flugbewegung nicht zu Ende.
Charity sah weder einen Blitz noch irgendeine andere sichtbare Spur einer Waffe, aber die Viper schien plötzlich von Thors Hammer getroffen und wie ein lebensgroßes Modell aus dünnem Stanniol zusammengeknüllt zu werden. Die Pilotenkanzel zerbarst. Trümmerstücke flogen in sämtlichen Richtungen davon. Dann stürzte die Maschine wie ein Stein zu Boden und explodierte.
Doch das Opfer des Piloten war nicht umsonst gewesen, denn Charity und Gurk hatten das Gebäude nun erreicht. Das ausgebrannte Foyer des Verwaltungsturms bot allerdings keine wirkliche Sicherheit. Sämtliche Scheiben der riesigen Glasfront waren zerborsten, und schon der erste Angriff hatte einen Großteil der Zwischenwände zerschmettert.
Das Gebäude bot zwar keinen echten Schutz, aber sie hatten wenigstens nicht mehr das Gefühl, hilflos und ausgeliefert zu sein.
Außerdem hatten sie hier drinnen vielleicht doch eine Chance.
»Wir müssen uns verstecken«, sagte Charity hastig. »Haben die Kerle irgendeine Möglichkeit, dich aufzuspüren?«
»Mich?« Gurk gab sich redliche Mühe, ein überraschtes Gesicht zu machen. »Wie kommst du darauf, daß sie -«
Charity ergriff ihn mit beiden Händen am Schlafittchen und riß ihn so hoch von den Füßen, daß sich sein Gesicht unmittelbar vor dem ihren befand, und schüttelte ihn wild.
»Dafür ist jetzt keine Zeit!« sagte sie wütend. »Du kannst meine Frage beantworten, oder ich nehme den Kerlen da draußen die Arbeit ab und drehe dir höchstpersönlich den Hals um!«
Gurk ächzte. »Schon gut, schon gut!« keuchte er. »Laß mich runter!«
Charity tat ihm den Gefallen, ließ Gurk aber nicht vollkommen los.
»Also?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Gurk. »Aber es könnte schon sein... ja. Verdammt.«
Wieder explodierte draußen irgend etwas am Himmel. Die Druckwelle fetzte auch die letzten Glasscherben aus dem Rahmen und ließ Charity und Gurk taumeln, riß sie aber nicht von den Füßen.
Charity hielt Gurk weiterhin mit einer Hand am Kragen fest, hob aber die andere schützend vor das Gesicht und blinzelte in die grelle Helligkeit hinaus.
Der Kampf tobte noch immer mit verbissener Wut, und Charity erblickte nach wie vor ein halbes Dutzend riesenhafter schwarzer Gestalten, die in ihre Richtung rannten. Ihre Konturen schienen in der gleißenden Helligkeit zu verschmelzen. Die Hitze dort draußen mußte unvorstellbar sein.
Jeder menschliche Angreifer wäre inmitten dieser höllischen Temperaturen längst gestorben - Körperschild hin oder her.
»Weiter!« befahl Charity.
Sie bewegten sich tiefer in den zerstörten Raum hinein. Zusammen mit dem Großteil der Stromversorgung war auch die gesamte Beleuchtung ausgefallen, so daß sie sich in fast vollkommener Dunkelheit bewegten. Aber das war eher ein Hindernis als ein Vorteil. Nach allem, was Charity bisher erlebt hatte, glaubte sie nicht, daß etwas so Banales wie Dunkelheit die Männer in den schwarzen Kampfanzügen aufhalten würde.