Auf seiner Handfläche lagen drei winzige, verschiedenfarbige Tabletten.
»Frühstück«, sagte er. »Wie versprochen. Kaffee, Rühreier mit Speck und frisch gepreßter Orangensaft. Aber schling nicht so.«
Charity betrachtete die Tabletten mißmutig. Skudders Worte waren nur halb scherzhaft gemeint. Die drei Konzentratpillen enthielten tatsächlich alles, was ihr Körper brauchte, und wahrscheinlich würden sie sogar so schmecken, wie Skudder sie angepriesen hatte. Trotzdem hätte Charity in diesem Moment ihre linke Hand für eine Tasse richtigen Kaffee gegeben. Leider war die nächste Kaffeemaschine etliche Millionen Meilen entfernt.
»Was ist schiefgegangen?« fragte sie, während sie die drei Konzentratpillen mühsam herunterwürgte.
»Direkt schiefgegangen ist nichts«, antwortete Skudder. »Aber irgend etwas stimmt nicht. Wir sind fast vierundzwanzig Stunden zu früh aufgewacht.«
»Vielleicht hat jemand den Wecker falsch gestellt.« Charity stemmte sich auf den Rändern des Schlaftanks in die Höhe, aber sie war noch so wackelig auf den Beinen, daß sie sich von Skudder dabei helfen lassen mußte, ganz aus dem Chromsarg herauszuklettern.
»Danke«, sagte sie. »Wieso besitzt du eigentlich die Unverschämtheit, schon so fit zu sein?«
»Weil ich meinen Tank so eingestellt hatte, daß ich sechs Stunden vor dir wach wurde«, gestand Skudder unumwunden. »Und das war auch gut so. Ich habe nämlich eine Menge interessanter Dinge herausgefunden, während du noch deinen Schönheitsschlaf gehalten hast.«
»War er wenigstens erfolgreich?«
»Was willst du von mir hören? Daß er nicht nötig war?« Skudder machte mit der linken Hand eine flatternde Geste auf das Sammelsurium von Computern und Anzeigeinstrumenten hinter sich. »Wenigstens habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, warum wir zu früh aufgewacht sind. Die zentrale Energieversorgung der HOME RUN hat sich eingeschaltet.«
»Erklär es mir.« Charity fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich kann noch nicht richtig denken.«
»Hartmann hat ein bißchen geschwindelt, als er die Schlaftanks für die Besatzung einbauen ließ«, sagte Skudder. »Die Geräte benötigen sechsunddreißig Stunden, um ihre Insassen zu wecken. Unsere schaffen es in zwölf Stunden. Das bringt uns den zeitlichen Vorsprung, den wir brauchen.«
»So weit denken kann ich schon noch«, murmelte Charity. »Du mußt nicht mit den Bienen und den Blumen anfangen.«
»Die HOME RUN besitzt einen Gravitationsgenerator«, fuhr Skudder unbeeindruckt fort. »Wir dachten, er würde sich automatisch einschalten, sobald wir die Hunderttausend-Meilen-Grenze erreichen, wie bei der Erde.«
»Und das hat er nicht«, vermutete Charity. »Sind wir schon auf dem Mars gelandet?«
»Ganz im Gegenteil«, antwortete Skudder. »Der Generator hat sich viel zu früh eingeschaltet. Wir sind fast eine halbe Million Kilometer vom Mars entfernt. Trotzdem liefert das Ding volle Energie.«
»Wir gewinnen etwas Zeit«, sagte Charity. »Was ist so schlimm daran?«
»Vielleicht nichts, vielleicht alles.« Skudder hob die Schultern. »Die HOME RUN hat vor zwölf Stunden damit begonnen, Friedensbotschaften auf allen bekannten Frequenzen und in drei Dutzend Sprachen zu senden, so wie es vorgesehen war. Wenn unsere Freunde zu früh darauf reagieren, bekommen wir Schwierigkeiten. Der Treibstoff der Stingray reicht nicht, um den Mars von hier aus zu erreichen.«
»Haben sie denn schon auf die Botschaften reagiert?« fragte Charity.
Skudder verneinte. Dann sagte er: »Es gibt noch ein Problem.« Mit ein paar Handgriffen aktivierte er ein halbes Dutzend Computermonitore, auf denen verschiedene Räume im Inneren der HOME RUN zu sehen waren. Diesen Anblick hatte Charity erwartet: Das Schiff war wieder zu lautlosem elektronischem Leben erwacht. In den meisten Räumen brannte Licht, obwohl noch niemand da war, der es gebraucht hätte, und der Anblick der Zentrale erinnerte Charity auf frappierende Weise an die zahllosen Science-Fiction-Filme, die sie während ihres ersten Lebens gesehen hatte: Verwaiste Stühle vor blinkenden Kontrollpulten, Monitore, auf denen endlose Zahlenkolonnen und verwirrende Grafiken vorüberzogen, Ausrüstungsgegenstände, die einen lautlosen Tanz in der Schwerelosigkeit aufführten.
Das Schiff war für eine Besatzung von zwölf Mann konzipiert, konnte aber auch ohne die geringste menschliche Hilfe fliegen. Es ist nichts weiter als eine Maschine, dachte Charity. Kaum mehr als ein zu groß geratener, äußerst komplizierter Taschenrechner. Trotzdem war es ein unheimlicher Anblick. Und er paßte zu den Gedanken, die Charity auf dem Weg hier herein gehabt hatte. Nicht einmal dieses Schiff brauchte sie, Skudder oder sonst jemanden wirklich - wie also kam sie auf die Idee, daß das Universum etwas so Überflüssiges wie die Menschen brauchte?
»Da.« Skudder deutete auf einen Monitor, auf dem die Schlaftanks der Besatzung zu erkennen waren, und Charity sah sofort, was er meinte: Die Besatzung der HOME RUN bestand aus zwölf Freiwilligen - aber es waren dreizehn Tanks.
»Einer zuviel«, sagte sie. »Hartmann wird doch nicht etwa so verrückt gewesen sein...?«
»Das dachte ich im ersten Moment auch«, sagte Skudder. »Aber dann habe ich ein bißchen Radio gehört.«
Er legte einen Schalter um, und Charity hörte unvermittelt einen Teil der Botschaft, die die HOME RUN ununterbrochen ausstrahlte, seit sie sich dem Mars näherten: »... friedlicher Absicht. Ich wiederhole: Hier spricht Gouverneur Jan Drasko von Bord der HOME RUN. Das Schiff ist unbewaffnet und nähert sich dem Mars in friedlicher Absicht. Wir kommen, um Verhandlungen mit Ihnen aufzunehmen...«
Die Nachricht ging offensichtlich noch weiter, aber Charity hatte genug gehört und schaltete ab. »Drasko! Mut hat er ja, das muß man ihm lassen.«
Skudder schnaubte. »Der Kerl ist karrieregeil, das ist alles! Hartmann hat vollkommen recht, weißt du? Wenn er damit durchkommt, hat er die nächste Wahl so gut wie gewonnen.«
»Wenn er damit durchkommt«, zitierte Charity ihn betont, »haben wir Frieden, Skudder. Aber er wird nicht damit durchkommen.« Erst als Charity die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr klar, wie sie sich vielleicht anhören mochten. Dabei hoffte sie nichts mehr, als daß Draskos Alleingang erfolgreich verlaufen möge.
Aber sie wußte, das würde nicht geschehen. Die Fremden wollen keinen Frieden. Zumindest nicht zu Bedingungen, die sie akzeptieren würden.
Skudder zoomte den Bildausschnitt heran, bis das Namensschildchen auf dem zusätzlich aufgestellten Cryogentank zu lesen war. Jan Drasko, stand darauf.
Charity wiederholte in Gedanken, was sie gerade laut gesagt hatte: Man konnte über Draskos Beweggründe streiten, aber Mut hatte er.
»Du weißt, was sein Hiersein bedeutet?« fragte sie. Skudder zuckte die Achseln, und Charity fuhr in nachdenklichem Tonfall fort: »Hartmann wußte nichts davon, sonst hätte er es uns gesagt. Drasko hat ihm nicht getraut. Ich frage mich, was für Überraschungen wir noch an Bord haben.«
»Vielleicht wußte er ja auch von uns«, pflichtete Skudder ihr bei. »Ich sollte besser nachsehen, ob unser Schiff noch da ist.« Seine Finger flogen über die Tastatur. Das Bild wechselte hektisch, bis er eine der Außenkameras gefunden hatte. Die Stingray hing unverändert am Rumpf der HOME RUN, wie ein bizarr geformter Parasit, der sich an der Flanke eines gepanzerten Riesenfisches festgesaugt hatte.
»Wenigstens ist es noch da«, sagte Charity. »Trotzdem. Mir wäre wohler, wenn du hinausgehst und die Maschine überprüfst.«
Skudder schüttelte den Kopf. »Nicht genug Sauerstoff«, sagte er. »Wir können die Schleuse nur einmal öffnen. Ich fürchte...«
Er brach ab. Ein konzentrierter, zum Teil aber auch erschrockener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
»Was ist?« fragte Charity knapp.