»Wir bekommen Besuch«, antwortete Skudder. »Es geht los.«
Es vergingen noch ein paar Augenblicke, aber dann sah auch Charity, was er meinte: Auf einem der Monitore war ein halbes Dutzend grün leuchtender Punkte erschienen, die sich der HOME RUN mit täuschender Langsamkeit näherten. Charity wußte es jedoch besser: Daß man die Bewegung auf dem Radarschirm überhaupt sehen konnte, bedeutete, daß die Geschwindigkeit der Objekte riesig war.
»Eine halbe Stunde«, schätzte sie.
»Eher zwanzig Minuten«, sagte Skudder. »Aber das reicht. Es wird ernst.«
Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, und Charity hatte das sichere Gefühl, daß er noch etwas Bestimmtes sagen wollte. Aber dann hob er nur die Schultern, drehte sich rasch um und öffnete einen Gepäckcontainer aus grauem Kunststoff, der direkt an der Wand neben der Schleusentür angebracht war. Charity verspürte ein rasches, unangenehmes Frösteln, als sie die beiden eng zusammengerollten Bündel identifizierte, die Skudder herausnahm. Sie zögerte länger als nötig, als Skudder ihr einen der beiden Anzüge hinhielt.
»Es ist sicher«, sagte Skudder. »Ich habe den Selbstzerstörungsmechanismus höchstpersönlich ausgebaut.«
Charity ersparte sich den Hinweis, daß dies nicht der Grund für ihr Zögern war. Wie die Stingray selbst waren auch die beiden Anzüge Beutestücke, die sie aus verschiedenen Teilen und nach ihren Bedürfnissen zusammengebaut hatten. Doch umgebaut oder nicht - in diesen Anzügen waren Menschen gestorben. Charity erinnerte sich noch zu gut an den Anblick, der sich ihr geboten hatte, als sie den ersten dieser Anzüge öffnete. Sie war gewiß nicht zimperlich, doch es gab Grenzen.
In der Zeit, die sie brauchte, um den Anzug überzustreifen, kamen die sechs leuchtenden Blips auf dem Radarschirm ein gutes Stück näher. Sie hatten sich verschätzt - oder die Maschinen hatten noch weiter beschleunigt. So oder so: Ihre Zeit war knapper bemessen, als sie geglaubt hatten.
Charitys Unbehagen steigerte sich für einen Moment zu einem Gefühl, das verdächtig nahe an Panik grenzte, als sie den Helm überstreifte. Das einseitig verspiegelte Visier war kaum so breit wie ein Bleistift, so daß sie unter dem Helm nichts als Dunkelheit erwartet hatte, doch sie erlebte eine Überraschung: Ihr Gesichtsfeld war kaum eingeschränkt, und sie sah sogar besser als ohne den Helm. Eine weitere technische Überraschung, die die Fremden für sie bereit gehalten hatten. Charity fragte sich, wie viele noch kamen.
Und welche vielleicht die letzte sein würde.
»Bereit?« Skudders Stimme drang aus keiner erkennbaren Richtung an Charitys Ohr. Sie hatte bisher nicht einmal gewußt, daß die Anzüge über eine interne Kommunikationsanlage verfügten, geschweige denn, wie sie funktionierte. Sie nickte. Dann fiel ihr ein, daß Skudder die Bewegung im Inneren des Helms nicht sehen konnte. Anscheinend deutete er ihr Schweigen aber als Zustimmung, denn er wandte sich ohne ein weiteres Wort um, trat in die Schleusenkammer und winkte ihr, nachzukommen.
Zwei Minuten später traten sie nebeneinander auf die Hülle der HOME RUN hinaus. Charitys erster Blick galt der Stingray, aber das Schiff lag unverändert da, genau so, wie sie es verlassen hatten, als wären tatsächlich nur die wenigen Stunden verstrichen, die ihre Landung - subjektiv - zurücklag.
Etwas anderes jedoch hatte sich grundlegend geändert: Als Charity angekommen war, war die HOME RUN kaum mehr als ein schwarzer Metallbrocken gewesen. Jetzt brannten in und auf dem Schiff zahllose Lichter, so daß es schon über große Entfernung hinweg zu sehen sein mußte. Drasko nahm seine Friedensmission offenbar sehr ernst. Die HOME RUN funkelte wie ein zu groß geratener Weihnachtsbaum. Man konnte ihnen wahrhaftig nicht vorwerfen, daß sie versuchten, sich anzuschleichen.
Charitys Blick löste sich von den sanft geschwungenen Umrissen des Jägers und glitt über den Himmel.
Sie waren noch immer fast eine halbe Million Kilometer vom Mars entfernt, trotzdem schien der rote Planet fast zum Greifen nahe - eine riesige, rostfarbene Kugel, öde im Vergleich zum Anblick der Erde, wie er sich aus dem Weltraum heraus bot, und trotzdem auf eine schwer in Worte zu fassende Art majestätisch. Und er war mehr als eine tote Steinkugel. Immerhin reichte die bloße Nähe des Planeten, um die Gravitationsgeneratoren der HOME RUN wieder zu vollem Leben zu erwecken.
»Mars bringt verbrauchte Energie sofort zurück«, murmelte sie.
»Was?« fragte Skudder.
»Nichts«, sagte Charity rasch. »Ein... altes Sprichwort aus meiner Zeit.«
»Ihr wußtet damals schon von den Gravitationsgeneratoren?« wiederholte sich Skudder.
Charity seufzte. »Vergiß es einfach«, sagte sie. »Komm.«
Sie beeilten sich, die letzten Meter zur Stingray zurückzulegen. Nach der unendlichen Leere, die sie gerade noch umgeben hatte, kam Charity die Enge an Bord des Jägers doppelt schlimm und bedrückend vor. Als sie die Stingray das erste Mal betreten hatte, war ihr das Cockpit winzig erschienen; nach den Umbauten, die sie daran vorgenommen hatten, war der vorhandene Platz auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft. Man brauchte schon ein kräftiges Nervenkostüm, um keinen Anfall von Klaustrophobie zu erleiden.
Mit einiger Mühe quetschte sie sich in den Pilotensitz und verrenkte sich fast den Hals, um Skudder dabei zu beobachten, wie er in den zweiten Sessel kletterte. Er hatte noch weniger Platz als Charity. Der Sitz war ein gutes Stück höher, und um das Maß voll zu machen, war Skudder fast zwanzig Zentimeter größer als sie, so daß er stark nach vorne gebeugt dasaß und trotzdem noch mit dem Kopf gegen das durchsichtige Material des Kanzeldaches stieß.
»Bitte schnallen Sie sich an, stellen Sie die Rückenlehne Ihres Sitzes senkrecht und stellen Sie das Rauchen ein«, sagte Charity. »Und vielen Dank, daß Sie mit Alien-Airlines fliegen.«
Sie schaltete nacheinander und schnell die Systeme des Jägers ein, aber mit keinem guten Gefühl. Vor der Energiesignatur der HOME RUN stellte die der Stingray vermutlich nicht mehr als einen Funken in einem Meer von Licht dar. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie auf irgendeinem Ortungsschirm auftauchten, tendierte gegen null.
Aber sie konnte eben nicht sicher sein, und das gefiel ihr nicht.
»War das eben noch ein altes Sprichwort aus deiner Zeit?« nörgelte Skudder.
»Sozusagen«, antwortete Charity. »Halt dich irgendwo fest.«
Sie beschleunigte, noch bevor Skudder auch nur Gelegenheit fand, sich festzuklammern, und grinste schadenfroh in ihren Helm hinein, als sie spürte, wie er zuerst gegen die Rücklehne ihres Sitzes und dann in die entgegengesetzte Richtung geworfen wurde. Die Stingray machte einen regelrechten Satz von der HOME RUN weg, drehte sich zwei-, dreimal um ihre Längsachse und schwenkte schließlich auf einen Parallelkurs ein.
»Verdammt!« maulte Skudder. »Willst du mich umbringen?«
»Gar keine schlechte Idee«, sinnierte Charity. »Niemand würde es merken. Es gibt weit und breit keinen Zeugen. Und ich könnte alles den Fremden in die Schuhe schieben.«
»Ha, ha, ha. Sehr witzig«, maulte Skudder. »Achte lieber auf deine Instrumente, während ich versuche, mich wieder auseinanderzufalten.«
Natürlich hatte er recht. Jetzt war wirklich nicht der richtige Moment für Albernheiten. Und ein einziger Blick auf den Radarschirm zeigte Charity auch, wie recht Skudder hatte. Die Fremden hatten sich bereits bis auf weniger als zwanzigtausend Kilometer genähert; ein Katzensprung für die Stingrays.
Hastig steuerte Charity den Jäger noch einmal um zwei-, dreitausend Meter weiter fort von der HOME RUN, paßte Geschwindigkeit und Kurs pedantisch genau an und schaltete dann sämtliche Systeme ab. Das Instrumentenpult vor ihr wurde schwarz, und das sanfte Vibrieren des Triebwerks erlosch. Sie warteten.
Das feindliche Geschwader näherte sich schnell, verringerte seine Geschwindigkeit auf dem letzten Stück aber wieder rapide, so daß sehr viel mehr Zeit verging, als Charity und Skudder angenommen hatten. Schließlich ging die kleine Flotte in einem Abstand von gut fünftausend Metern zur HOME RUN auf Parallelkurs und beschleunigte wieder, um ihre Geschwindigkeit der des größeren Schiffes anzupassen. Charity hatte mit genau diesem Manöver gerechnet, aber sie fühlte trotzdem eine immer stärkere Anspannung. Ihr eigener Abstand zur HOME RUN betrug kaum mehr, und auch wenn sie sich auf der anderen Seite des Schiffes befanden, bedeutete das nicht, daß sie in Sicherheit waren. Sie hatte schon zu viele unangenehme Überraschungen mit diesen namenlosen Fremden erlebt, um sie auch nur eine Sekunde lang zu unterschätzen.