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Die Beschleunigung würde sie beide umbringen, wenn sie auch nur noch wenige Augenblicke anhielt, aber das Schiff wurde immer noch schneller und schneller, und dann... faltete sich der Weltraum unmittelbar vor dem Bug des Jägers auseinander und machte etwas anderem Platz, einer Richtung und Dimension, die es in einem Universum euklidischer Gesetzmäßigkeiten nicht gab und nicht geben durfte, und die Stingray beschleunigte noch einmal und sprang mit einem gewaltigen Satz in dieses verstandverdrehende Nichts hinein.

Und Charity verlor endlich das Bewußtsein.

Das erste, was sie sah, als sie die Augen wieder öffnete, war Schwärze. Nicht die Dunkelheit eines vollkommen geschlossenen Raumes oder einer mondlosen Nacht, sondern eine so völlige Schwärze, daß ihr sofort klar wurde, daß sie blind war. Außerdem war sie sich ihres Körpers bewußt, aber nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu rühren.

Noch bevor sie diese Erkenntnis weit genug verinnerlichen konnte, um in Panik zu geraten, erschien eine Anzahl winziger, blasser Pünktchen in der Dunkelheit, die sowohl an Anzahl wie auch an Leuchtkraft zunahmen. Sterne. Ihr Sehvermögen kehrte zurück. Sie konnte den Panik-Knopf wieder loslassen. Offenbar war ihr Bewußtsein ihrem Körper und ihren Sinnen einfach nur wieder ein Stück vorausgeeilt.

Nicht allzu lange Zeit darauf wünschte Charity sich beinahe, es wäre umgekehrt gewesen. Sie erinnerte sich nur vage an die letzten Augenblicke, bevor das Schiff in das Loch im Weltraum hinein gesprungen war, doch die Beschleunigung mußte wohl noch einmal zugenommen haben. Sie fühlte sich, als wäre jeder einzelne Knochen in ihrem Leib mindestens ein Dutzend mal gebrochen und nicht besonders professionell wieder zusammengesetzt worden. Außerdem hatte sie den schlimmsten Muskelkater ihres Lebens. Ihr Kopf war auf die linke Seite gerollt, so daß sie auch nur diesen Teil des Weltalls neben dem Schiff sehen konnte. Wahrscheinlich wäre sie in der Lage gewesen, den Kopf zu drehen, um sich auch in den anderen Richtung umzublicken, aber sie wagte es nicht; sie befürchtete, die Muskeln in ihrem Nacken könnten zerbrechen wie Glas, wenn sie sie anspannte. Eine schmale, rot-orange Linie erschien am unteren Rand ihres Gesichtsfeldes. Sie begann langsam breiter zu werden, und es dauerte nur noch ein paar Augenblicke, bis Charity sie identifizierte.

Der Mars.

Sie befanden sich im Orbit um den Mars. Einem sehr niedrigen Orbit, der kaum wahrnehmbaren Krümmung des Marsglobus nach zu schließen.

Obwohl es Charity gewaltige Anstrengung kostete und sie um ein Haar vor Schmerz aufgestöhnt hätte, hob sie die linke Hand weit genug, um auf die Uhr schauen zu können.

Sie blinzelte. Was sie sah, war praktisch unmöglich.

»Glaub es ruhig«, erklang Skudders Stimme in ihrem Helm. »Fünftausend Kilometer in knapp drei Sekunden. Nicht schlecht, was?«

»Wird das jetzt zu einer schlechten Angewohnheit?« fragte Charity. »Immer vor mir aufzuwachen, meine ich.«

»Ich bin nicht vor dir wach geworden«, erwiderte Skudder. »Ich war gar nicht bewußtlos. Aber ich hätte mir gewünscht, ich wäre es. Schau mal nach rechts.«

Charity gehorchte mit einiger Mühe - und erstarrte.

Der Anblick des Mars aus dieser unerwarteten Nähe hatte sie überrascht, aber er war nichts gegen das, was sich ihr auf anderen Seite des Schiffes bot.

»Das ist -«

»Das Zonenschiff«, sagte Skudder. »Jedenfalls hat Gurk es so genannt. Allerdings fällt es mir immer schwerer, dieses Ding Schiff zu nennen. Es kommt näher. Oder wir nähern uns ihm - das kommt ganz auf den Standpunkt an.«

Charity hörte gar nicht mehr hin. Skudder brachte es fertig, drei Tage ohne Unterbrechung zu schweigen, konnte aber auch mit seinem Geplapper zu einer kolossalen Nervensäge werden. Ihr stand jetzt nicht der Sinn nach seinem fadenscheinigen Humor. Strenggenommen war in ihren Gedanken für nichts anderes Platz als für das... Ding.

Zumindest in diesem Punkt stimmte sie Skudder zu: Auch ihr gelang es einfach nicht, dieses gigantische Gebilde dort draußen als Schiff zu bezeichnen. Genaugenommen fiel ihr überhaupt kein Wort ein, um dieses Etwas, das das halbe Firmament über ihnen ausfüllte, zu beschreiben. Es gab keine Vergleichsmöglichkeiten, keine Maßstäbe. Etwas Ähnliches hatte Charity nie zuvor gesehen. Das Ding war groß, und es war bizarr. Das waren auch schon alle Attribute, die ihr dazu einfielen.

Es war das gleiche Gebilde, dessen Aufnahmen das Weltraumteleskop geliefert hatte. Sie alle hatten Dutzende von Bildern davon gesehen, und trotzdem war es... anders. Der Unterschied war nicht in Worte zu fassen, und doch gab es ihn - und er war so deutlich, so gravierend, daß es Charity auch nach endlosen Sekunden noch immer schwer fiel zu glauben, daß es sich tatsächlich um das gleiche Objekt handelte.

Das Zonenschiff hatte sich nicht wirklich verändert: Es war noch immer eine riesige, mißgestalte Kugel mit zahllosen Auswüchsen, Rissen, Beulen, Anhängseln, Schrunden und Tentakeln, aber da war plötzlich noch mehr, als wäre im Anblick dieses Gebildes irgendeine Information enthalten, die sich weder fotografieren noch auf irgendeine andere Weise festhalten ließ.

Plötzlich mußte Charity wieder daran denken, was sie gespürt hatte, kurz bevor die Stingray aus dem Universum herausgefallen war: Die Präsenz von irgend etwas Gewaltigem, Lebendigen.

Das war es.

»Es lebt«, murmelte sie.

»Was?« machte Skudder.

»Das ist kein Raumschiff«, sagte Charity. »Ich weiß nicht, warum Gurk es so genannt hat, aber es ist kein Schiff. Dieses Ding ist lebendig.«

Skudder antwortete nicht, doch Charity konnte seinen Zweifel regelrecht spüren. Trotzdem war sie hundertprozentig sicher, sich nicht zu täuschen. So bizarr ihr der Gedanke selbst vorkommen mochte: Diese zwanzig Meilen durchmessende, häßliche Kugel dort draußen war kein künstliches Gebilde, sondern ein lebendiges, fühlendes Wesen.

Möglicherweise sogar ein denkendes Wesen.

»Bist du... sicher?« fragte Skudder nach einer Weile. Er klang noch immer zweifelnd, aber beinahe auch erschüttert.

»Fühlst du es denn nicht?«

»Fühlen? Was?«

Charity antwortete nicht. Es war nicht das erste Mal, daß sie diese Art von Gespräch führten. Während der Besatzung durch die Moroni hatte Charity die Nähe der Außerirdischen stets gefühlt, noch bevor sie die Aliens wirklich zu Gesicht bekommen hatte, ganz anders als Skudder.

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Skudder nach einer Weile. »Ich wäre dankbar für konstruktive Vorschläge.«

»Vorschläge?«

»Wie wir hier wegkommen«, sagte Skudder nervös.

Charity hatte nicht vor, hier wegzukommen. Der Stingray-Jäger näherte sich dem Giganten so schnell, daß ihnen vermutlich nur noch wenige Minuten blieben, doch Charity war sicher, daß jeder Fluchtversuch zwecklos gewesen wäre. Und sie hätte wahrscheinlich auch dann keinen dahingehenden Versuch unternommen, wenn er Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.

»Moment mal«, sagte Skudder. Offensichtlich hatte er ihr Schweigen richtig gedeutet. »Du willst doch nicht etwa auf diesem Ding landen?«

»Ich dachte, wir wären hier, um ein paar Geheimnisse zu lüften«, entgegnete Charity. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du darauf bestanden, mich zu begleiten.«

»Zum Mars, ja!« antwortete Skudder heftig. »Nicht zu diesem... Etwas! Ich bin mitgekommen, um dich genau von dieser Art Wahnsinn abzuhalten!«

»Dann hast du versagt«, antwortete Charity ruhig.

Bevor Skudder erneut und wahrscheinlich noch lauter widersprechen konnte, streckte sie den Arm aus und berührte eine x-beliebige Taste auf dem Kontrollpult. Das Ergebnis entsprach genau ihren Erwartungen: nichts. Die Instrumente des Schiffes waren tot.

»Verdammt«, fluchte Skudder.