»Du sagst es«, entgegnete Charity fröhlich. »Aber mach dir keine Sorgen. Sollten wir Schwierigkeiten bekommen, verwickelst du unsere Freunde einfach in eine Diskussion. Selbst wenn du sie nicht zu Tode quasselst, verlassen sie wahrscheinlich nach spätestens einer Stunde fluchtartig diesen Teil der Galaxis.«
»Sehr witzig«, sagte Skudder. »Dazu kann ich nur sagen -«
»Skudder!«
Die nächsten drei oder vier Minuten verbrachten sie in völligem Schweigen.
Charity hatte das Gefühl, daß die Stingray langsamer wurde, während sie sich dem Giganten näherte, und ihre Aufmerksamkeit wurde voll und ganz von dem Anblick in Anspruch genommen, der sich ihr bot. Je näher sie dem Giganten kamen, desto mehr bizarre Einzelheiten konnten sie erkennen. Seine Oberfläche war nicht glatt, sondern so zerrissen und zerfurcht, daß sie nicht einmal mehr sicher waren, es tatsächlich mit einer einzigen, kompakten Masse zu tun zu haben.
»Dort!«
»Ich sehe es.« Charity nickte nervös. Einer der riesigen Schlünde unter ihnen begann sich zu verändern. Seine Ränder zuckten und warfen für eine oder zwei Sekunden Falten, in denen man die Stingray bequem hätte verbergen können. Dann tat sich plötzlich eine riesige, von dunkelroter Düsternis erfüllte Öffnung unter ihnen auf. Charity wäre kein bißchen überrascht gewesen, hätte plötzlich ein gigantischer Tentakel oder eine Zunge aus diesem Riesenmaul heraus nach ihnen gegriffen, doch die restlichen Sekunden ihrer Reise verliefen viel undramatischer: Die Stingray schwenkte wie von Geisterhand bewegt herum und glitt lautlos in die Öffnung im Rumpf des Zonenschiffes hinein.
»Jetzt weiß ich endlich, wie Cinderella sich gefühlt haben muß«, sagte Skudder.
»Wer?«
»Der Zwerg mit der langen Nase, der von einem Haifisch gefressen wurde.«
»Sein Name war Pinocchio, und es war ein Wal«, seufzte Charity.
Doch Skudder hatte durchaus recht. Der Vorgang hatte etwas von Gefressenwerden an sich.
Die Halle, in der sie schwebten, war gigantisch, gute fünfzig Meter hoch und mindestens fünf-, sechsmal so lang. Wände und Decke bestanden aus riesigen, vielfach untergliederten Rippenbögen, die einer sonderbar eleganten Architektur folgten. Selbst das Licht wirkte lebendig: warm, rot und auf eine schwer zu beschreibende Weise beschützend.
Die Stingray glitt etwa zur Hälfte in den Hangar hinein, wurde dabei immer langsamer und sank gleichzeitig weiter zu Boden. Es war nicht das einzige Schiff hier drinnen. Charity entdeckte mindestens ein halbes Dutzend der rochenförmigen Jäger, die alle eines gemein hatten: Sie alle waren mehr oder weniger stark beschädigt. Die meisten mehr. Zwei der Maschinen waren kaum mehr als Schrotthaufen.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte Skudder.
»Was hast du erwartet?« fragte Charity. »Wahrscheinlich kommen alle Schiffe hierher, die die Rücksturzautomatik aktivieren.«
»Dann sollten wir vielleicht froh sein, daß wir nicht gleich in einer riesigen Schrottpresse gelandet sind«, murmelte Skudder. Noch leiser fügte er hinzu: »Sofern es nicht tatsächlich der Fall ist, heißt das.«
Charity plagte eine ganz andere Sorge. Beschädigte Schiffe bedeuteten zumeist auch verwundete Piloten. Sie fragte sich, was sie tun sollten, wenn sie sich plötzlich dem hiesigen Äquivalent einer Erste-Hilfe-Mannschaft gegenübersahen.
Die Stingray setzte zwischen zwei stark beschädigten Raumjägern auf. Das Schiff war zwar ohne Hilfe der Triebwerke an Bord geholt worden, doch Charity konnte regelrecht spüren, wie die unsichtbare Macht erlosch, die sie bisher bewegt hatte. Zurück blieb trotzdem etwas. Charity hatte nach wie vor das Gefühl, von etwas Gigantischem, Lebendigem umgeben zu sein, doch mit diesem Gefühl war es plötzlich wie mit dem roten Licht, das sie umgab: Es war fremdartig, bizarr und durch und durch unheimlich, aber kein bißchen feindselig.
Sie warteten. Eine Minute. Zwei. Als sich auch nach Ablauf der dritten Minute nichts rührte, begann Charity allmählich wieder Mut zu schöpfen. Sie waren eben nicht auf einem irdischen Schiff. Die Versorgung verwundeter Piloten schien hier nicht unbedingt Priorität zu genießen.
»Wartest du auf ein Begrüßungskommitee?« fragte Skudder.
Charity blieb ernst. »Check die beiden Schiffe«, sagte sie knapp. »Ich habe... noch eine Kleinigkeit zu erledigen.«
Sie fluchte innerlich, als sie das Stocken in ihrer eigenen Stimme registrierte. Skudder war nicht dumm. Sie konnte ihm genau so gut sagen, um welche Kleinigkeit es sich handelte. Zu ihrer Erleichterung stellte er jedoch keine weiteren Fragen mehr, sondern stemmte sich ächzend aus dem Sitz und lief geduckt den kurzen Gang zum Schott hinab. Charity fragte sich, ob er wohl wußte, warum der Sitz, in dem er die letzten Stunden zugebracht hatte, so eng geworden war. Vermutlich ja. Auf jeden Fall mußte er es ahnen. Schließlich hatte er gewußt, worauf er sich einließ.
Charity wartete trotzdem, bis Skudder das Schiff verlassen hatte und in einem der beiden Wracks draußen verschwunden war. Erst dann drehte sie sich um, griff mit einiger Mühe nach der linken Armlehne des Sitzes und drückte den darin verborgenen Schalter. Die Sitzfläche klappte mit einem schnappenden Laut nach oben und gewährte Charity einen Blick auf das Innenleben des auf fast doppelte Größe anwachsenden Copilotensitzes.
Sie zögerte. Im Moment lag vor ihr nichts als ein Haufen Drähte und vier Pfund schwach radioaktiv strahlendes Metall, aber die Eingabe eines simplen achtstelligen Codes und ein Druck auf einen harmlosen Schalter konnten etwas grundlegend anderes daraus machen.
Charity gab die ersten fünf Ziffern ein, zog die Hand dann wieder zurück und zögerte wieder. Sie konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, warum. Es gab keinen logischen Grund. Und trotzdem hatte sie plötzlich das an festes Wissen grenzende Gefühl, etwas Falsches zu tun.
Charity verscheuchte den Gedanken, hämmerte die letzten drei Ziffern in die Tastatur und drückte schon fast übertrieben heftig die darüber angebrachte Taste. Ein leises Summen erscholl, das war alles.
Charity beugte sich noch weiter vor, nahm die winzige Fernbedienung aus dem Fach und schloß den Sitz wieder. Nicht hatte sich verändert. Nichts, außer der Tatsache, daß aus der erbeuteten Stingray nun eine fünfundsiebzig-Megatonnen-Kobaltbombe geworden war.
Sie verließ das Schiff und wandte sich in die Richtung, in die Skudder gegangen war, blieb nach zwei Schritten jedoch wieder stehen, um sich ein zweites Mal und aufmerksam umzuschauen.
Das Gefühl war nicht weniger unheimlich als beim erstenmal, ja, vielleicht sogar noch intensiver. Das rote Licht, das die Halle erfüllte, ließ alles verschwimmen, was weiter als zwanzig oder dreißig Meter entfernt war, als wäre die Luft nicht nur von Helligkeit, sondern auch noch von etwas anderem, Substanziellem erfüllt. Die Schiffswracks, die sie umgaben, wirkten sonderbar deplaciert, nicht nur wie Fremdkörper, sondern wie Eindringlinge, die hier nichts zu suchen hatten.
Charity drehte sich einmal im Kreis, dann ließ sie sich in die Hocke sinken und tastete mit den Fingerspitzen über den Boden.
Sie erlebte eine Überraschung. Die Sensoren in ihren Handschuhen vermittelten ihr das Gefühl, mit bloßen Händen über den Boden zu tasten. Farbe und Aussehen hatten sie erwarten lassen, etwas Weiches, Nachgiebiges und Warmes zu berühren, aber das genaue Gegenteil war der Falclass="underline" Der Boden war hart wie Stahl und so kalt, als hätte sie Eis berührt. Und er fühlte sich eindeutig nicht lebendig an.
Charity registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, hob den Kopf und fuhr erschrocken zusammen, als sie sich unvermittelt einem zwei Meter großen, ganz in lichtschluckendes Schwarz gekleideten Riesen gegenübersah. Ihre Hand war bereits auf halbem Wege zur Waffe, bevor sie Skudder erkannte.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte Skudder. »Hast du sie scharf gemacht?«