»Was?«
»Die Bombe.« Skudder machte eine wedelnde Geste. »Oder warum hast du mich sonst rausgeschickt?«
»Spiel nicht den Überraschten«, sagte Charity. »Dir war doch wohl klar, daß wir eine Radikallösung in Betracht ziehen müssen.«
»Natürlich«, antwortete Skudder. »Es wäre nur nett gewesen, wenn du es mir gesagt hättest.«
Charity zog es vor, die Diskussion nicht fortzuführen. Es war weder der passende Moment noch die passende Umgebung. Außerdem hatte sie nicht wirklich vor, die Bombe zu zünden. Es sei denn, mit ihrem letzten Atemzug.
»Was hast du gefunden?« fragte sie.
»Drei tote Piloten«, antwortete Skudder.
Charity bedauerte es sehr, in diesem Moment nicht sein Gesicht sehen zu können. »Und ich bin ziemlich sicher, daß mindestens einer vor ihnen erst nach der Landung gestorben ist. Eine ganze Weile danach. Und noch etwas.« Skudder drehte sich halb herum und deutete auf den Jäger, aus dem er gerade herausgekommen war. »Sieh ihn dir genau an.«
Charity gehorchte. Es vergingen noch einige Sekunden, aber dann begriff sie, was Skudder meinte. Sie kannte diese Stingray. Es war einer der Jäger, die sie beim Kampf um die EXCALIBUR höchstpersönlich abgeschossen hatte.
»Aber das ist...«
»Gute drei Monate her«, führte Skudder den Satz zu Ende. »Anscheinend habe ich gar nicht so falsch gelegen. Es ist ein Schrottplatz.«
Charity versuchte erst gar nicht, eine andere Erklärung zu finden. Nach der offensichtlichen Mühe, die sich die Fremden gaben, um ihre Schiffe zurückzuholen, kam es ihr vollkommen sinnlos vor, daß sie sie jetzt einfach hier ablegten und vergaßen; noch dazu mitsamt den Piloten. Doch anscheinend ergab nichts, was die Fremden taten oder planten, wirklich Sinn.
Sie deutete nach links, aus dem einzigen Grund, weil dies die Richtung war, in der die Schiffe gelandet waren. »Komm.«
Nebeneinander marschierten sie los. Das halbe Dutzend Schiffe, das sie nach ihrer Landung vorgefunden hatten, war längst nicht alles. Während sie die riesige Halle durchquerten, stießen sie auf eine ganze Anzahl weitere Wracks, größtenteils Stingrays, aber auch einige Shuttles und zwei Schiffe von vollkommen unbekannter Bauart.
Natürlich waren sie nur auf Mutmaßungen angewiesen, doch es kam Charity immer unwahrscheinlicher vor, daß alle diese Maschinen Opfer irdischer Geschütze geworden waren. Sie hatte an den meisten Gefechten gegen die Fremden teilgenommen. Mit Ausnahme der vernichtenden Niederlage, die die Angreifer bei der Schlacht um die EXCALIBUR erlitten hatten, mußten sie kaum Verluste hinnehmen.
Jedenfalls nicht so viele.
Plötzlich blieb Skudder stehen und deutete nach vorn. Aus der roten Dämmerung war ein regungsloser, ausgestreckter Körper aufgetaucht. Zwei, drei Sekunden lang verharrten sie, dann zogen sie beide ihre Waffen und näherten sich der Gestalt respektvoll und aus verschiedenen Richtungen.
Ihre Vorsicht erwies sich als überflüssig. Der Mann war tot. Wie Charity vermutete, schon eine ganze Weile.
Skudder kniete neben der Gestalt im schwarzen Kampfanzug nieder, legte seine Waffe auf den Boden und drehte den Mann auf den Rücken. Er bewegte sich, wie er es sollte - wie ein toter Körper, nicht wie ein leerer Anzug, in dem eine breiige Masse schwappte, die von einem Killer-Enzym erzeugt worden war.
»Das wäre die Gelegenheit«, murmelte Skudder. »Oder willst du nicht wissen, wie sie aussehen?«
Charity nickte nur. Plötzlich war sie wieder nervös. Sie fragte sich seit drei Monaten, was sich unter den schwarzen Kampfanzügen verbarg, und trotzdem hatte Charity mit einem Male fast Angst davor, es zu erfahren.
Skudder steckte seine Waffe wieder ein, beugte sich über den Toten und machte sich an seinem Helm zu schaffen. Behutsam löste er die Verschlüsse, hob den Kopf des Toten mit der linken Hand an und streifte mit der anderen den Helm ab.
Das Geheimnis blieb ein Geheimnis. Die Selbstzerstörungsautomatik des Anzuges funktionierte zwar nicht mehr, aber das Gesicht, in das Charity und Skudder blickten, gehörte einem Mann, der seit Jahren tot sein mußte. Charity starrte in einen grinsenden Totenschädel, über den sich mumifizierte, pergamenttrockene Haut spannte.
»Du hattest recht«, murmelte sie. »Das ist ein Schrottplatz. Und er ist schon ziemlich lange in Betrieb.« Sie blickte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Dreißig oder vierzig Meter hinter ihnen lag das ausgebrannte Wrack einer Stingray. Wenn sie den Weg, den dieser Mann genommen hatte, in Gedanken zurückverfolgte, führte er genau zu diesem Wrack.
»Er muß sich bis hierher geschleppt haben«, sagte sie nachdenklich. »Ich begreife das nicht. Wieso holen sie ihre Schiffe zurück und lassen die Piloten sterben?«
»Keine Ahnung«, antwortete Skudder in einem Tonfall, der kaum Zweifel daran aufkommen ließ, daß ihn diese Frage nicht im geringsten interessierte. »Immerhin wissen wir eins: Sie sind Menschen.«
Charity fand nicht, daß das eine sehr beruhigende Erkenntnis war. Ganz im Gegenteil. Ihr wäre eine zwei Meter große Ameise beinahe lieber gewesen als ein menschlicher Gegner, der Laserschüsse ebenso verkraftete wie großkalibrige MG-Geschosse. Auf jeden Fall wäre die Ameise ihr weit weniger unheimlich gewesen.
»Das ist... seltsam«, murmelte sie.
»Was?«
Charity deutete auf das mumifizierte Gesicht.
»Irgend etwas daran kommt mir bekannt vor«, sagte sie.
»Ich wußte gar nicht, daß du mit Zombies verkehrst.«
»Ich meine es ernst«, sagte Charity. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich...« Sie versuchte sich vorzustellen, wie dieses Gesicht, dieser Mann zu Lebzeiten ausgesehen haben mußte. Sehr groß, vermutlich sehr kräftig, gutaussehend. Wie...
»Nein«, sagte sie. »Das ist unmöglich.«
»Was?« fragte Skudder.
Um ein Haar hätte Charity ihren Verdacht laut ausgesprochen, dann aber schüttelte sie nur den Kopf und sagte mit veränderter Stimme: »Ach, nichts. Mach ein paar Aufnahmen. Wir jagen sie zuhause durch den Computer. Vielleicht kann er das Gesicht rekonstruieren.«
»Und wir haben etwas, um alle unsere Freunde zu vergraulen«, pflichtete Skudder ihr bei. »Falls einer auf die Idee kommt, einen lustigen Diaabend zu machen.« Trotzdem zog er den Fotoapparat hervor und machte in rascher Folge ein halbes Dutzend Aufnahmen, bevor er sich wieder aufrichtete und weiterging. Charity folgte ihm, sah aber nach einigen Schritten noch einmal zu dem Toten zurück.
Es war unmöglich. Es durfte nicht sein. Wenn der verrückte Gedanke, der ihr für einen Moment durch den Kopf geschossen war, Wahrheit wäre, dann wäre alles umsonst gewesen. Sie härten nicht einmal die Spur einer Chance.
Charity und Skudder brauchten noch gute zwanzig Minuten, um die Halle zur Gänze zu durchqueren. Sie sprachen während dieser Zeit sehr wenig. Eine sonderbare, schwer in Worte zu fassende Stimmung hatte von Charity Besitz ergriffen; irgend etwas zwischen Melancholie, Resignation und Trotz. Jeder Schritt, den sie taten, schien Charity deutlicher als der vorherige klar zu machen, wie aussichtslos ihr Unternehmen war. Schon die reine Größe dieses unheimlichen Gebildes ließ jeden Gedanken daran, es zerstören oder auch nur erforschen zu wollen, schlichtweg lächerlich erscheinen. Sie waren weniger als Ameisen, die in den Eingeweiden eines Dinosauriers herumkrochen.
Endlich erreichten sie die Wand des gewaltigen Hangars. Sie hatten gute hundert oder mehr Schiffswracks passiert, und die Anzahl fremdartiger, zum Teil bizarrer Konstruktionen war im gleichen Maße gestiegen, in dem sie vorankamen. Skudders Kamera war fast ununterbrochen im Einsatz gewesen, aber sie hatten darauf verzichtet, die Wracks eingehender zu untersuchen. Sämtliche Wissenschaftler der Erde würden sie für dieses Versäumnis massakrieren, aber sie waren schließlich nicht auf einer Forschungsreise. Sie waren hier, um das Rätsel dieses Schiffes zu lösen. Und es möglicherweise zu zerstören.