»Was... meinst du?«
»Deine Erinnerungen. Sie kommen gleich zurück. Das ist nur eine harmlose Nebenwirkung des Schlafmittels.«
»Schlafmittel? Ich kann mich nicht erinnern, irgend jemandem erlaubt zu haben, mir ein Schlafmittel zu -«
»Hast du auch nicht«, grinste Skudder. »Das war ich. Du hast sechsunddreißig Stunden wie ein Baby geschlafen. Und du hattest es verdammt nötig.«
»Sechsunddreißig Stunden?!«
Charity setzte sich kerzengerade auf und bereute die schnelle Bewegung schon im gleichen Moment wieder. Ihr wurde so schwindelig, daß sie nach vorn sank und das Gesicht in den Händen verbarg.
»Wäre es nach den Ärzten gegangen, hätten sie dich eine Woche flachgelegt«, sagte Skudder. Seine Stimme hatte einen unangemessenen fröhlichen Klang, fand Charity. »Du hattest eine gebrochene Rippe, ein zerschmettertes Handgelenk, zwei gestauchte Rückenwirbel, ungefähr drei Dutzend ernstzunehmender Blutergüsse und Prellungen und... und den Rest habe ich vergessen, aber die Liste war noch ziemlich lang. Wie gesagt: Sie wollten dich eine Woche lang auf Eis legen. Aber ich wußte, daß du den Chefarzt erschießen würdest, wenn du aufwachst, und konnte ihn von Gegenteil überzeugen.«
»Was ist passiert?« murmelte Charity.
Das Zimmer hörte ganz allmählich auf, sich in gegenläufigen Kreisen um sie herum zu drehen.
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Skudder. »Zuerst herrschte allumfassende Dunkelheit, weißt du, und dann erschuf der große Geist Himmel und Erde -«
»Skudder!«
Skudder lachte glucksend, aber nur für einen ganz kurzen Moment.
Als Charity die Hände herunternahm und in sein Gesicht sah, war das Lächeln selbst aus Skudders Augen verschwunden.
»Nichts«, sagte er. »Jedenfalls nichts, was es erforderlich gemacht hätte, dich zu wecken. Du hast diese Ruhepause dringend gebraucht.«
Charity ersparte es sich, zu protestieren, aus dem ganz einfachen Grund, daß Skudder recht hatte: Sie war mit ihren Kräften am Ende gewesen. Sie konnte niemandem helfen, wenn sie im entscheidenden Augenblick zusammenklappte.
»Hartmann?« fragte sie.
»Es geht ihm gut«, antwortete Skudder. »Und Net und den Kindern ebenfalls. Er hat ausnahmsweise mal das Richtige getan und nicht versucht, den Helden zu spielen, sondern seine Familie in Sicherheit gebracht.«
»Sind sie noch hier?«
Skudder schüttelte den Kopf.
»Niemand ist noch hier«, antwortete er. »Wir haben das gesamte Zivilpersonal der Basis evakuiert, einschließlich der Familien der Soldaten.«
»Eine vernünftige Idee«, sagte Charity. »Zu vernünftig, um von dir zu sein. Wer ist darauf gekommen?«
»Der Hohe Rat.« Jetzt klang Skudders Stimme eindeutig wieder spöttisch. »Eigentlich bekomme ich schon grüne Pusteln im Gesicht, wenn ich diese Versammlung von Clowns auch nur sehe, aber in diesem Punkt haben sie recht. Zwei Überfälle in weniger als zwölf Stunden sind ein bißchen viel. Es könnte eine schlechte Angewohnheit daraus werden.«
Charity fand Skudders scherzhaften Tonfall immer unpassender. Sie kannte den Indianer lange genug, um zu wissen, daß es einfach nur seine Art war, den Schrecken zu verarbeiten, den er erlebt hatte; ein derber Humor, in den Charity sich oft genug selbst geflüchtet hatte, einfach um zu überleben.
Trotzdem... er störte sie in diesem Moment. Sie wußte selbst nicht genau, warum.
Nur um Skudder nicht antworten zu müssen, schlug sie die Bettdecke zurück und setzte die nackten Füße auf den Boden. Der Rest ihres Körpers war ebenso nackt, und als sie aufstand, konnte sie Skudders Blicke fast körperlich fühlen.
»Keine Chance«, murmelte sie, während sie sich auf den Weg ins Bad machte. »Ich bin immer noch müde.«
»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, grinste Skudder. »Außerdem haben wir keine Zeit. Der Hohe Rat hat in einer halben Stunde eine Versammlung einberufen. Deshalb habe ich dich auch geweckt. Ich glaube, es ist besser, wenn du dabei bist.«
»Eine halbe Stunde?« stieß Charity in übertrieben gespieltem Entsetzen hervor. »Oh, Gott! Dann muß ich mich beeilen! Ich muß noch baden, mir eine Dauerwelle legen lassen und meine Fingernägel maniküren... was meinst du? Reicht die Zeit noch, auf einen Sprung im Beauty-Salon vorbeizuschauen?«
Sie betrat das Bad, schlug den Duschvorhang beiseite und begann zitterig mit den Warm- und Kaltwasserhähnen zu kämpfen. Sie wußte, daß sie die ideale Temperatur sowieso nicht finden würde. Eines der ungelösten Rätsel des Universums würde wahrscheinlich auf immer bleiben, warum Duschwannen prinzipiell nie die richtige Temperatur hatten, ganz gleich, welcher Technologie die Mischbatterien auch entsprangen.
Sie versuchte es trotzdem und rief über die Schulter zurück: »Was ist mit Gurk?«
»Hartmann hat ihn festnehmen lassen«, antwortete Skudder.
»Was?« Charity fuhr überrascht herum.
Skudder war ihr bis zur Badezimmertür gefolgt und lehnte am Rahmen.
»Keine Angst«, sagte er. »Gurk war zwar nicht besonders begeistert, aber es war das einzige, was Hartmann tun konnte. Die Leute hier sind im Moment auf Außerirdische nicht besonders gut zu sprechen, fürchte ich.«
Wahrscheinlich hat er recht damit, dachte Charity.
Sie betrachtete den rauschenden Wasserstrahl hinter sich einen Moment lang nachdenklich, dann hielt sie die Hand hinein, stellte fest, daß er viel zu kalt war, und drehte das Wasser wieder ab.
*
»Du hast wirklich eine reizende Art, alte Freunde willkommen zu heißen«, nörgelte Gurk. »Ich sitze seit zwei Tagen in diesem verdammten Loch fest, werde mit Wasser und Brot knapp vor dem Verhungern bewahrt und -«
»Es sind anderthalb Tage«, unterbrach ihn Charity. »Und so viel ich weiß, mußt du nur alle paar Wochen etwas essen und kommst mindestens einen Monat ohne Flüssigkeit aus.«
Sie wandte sich an den jungen Soldaten, der ihr die Tür geöffnet hatte und nun nervös von ihr zu Gurk und wieder zurück sah. Seine Hand spielte am Griff der Waffe, die er an der Seite trug. Er war fast doppelt so groß wie Gurk und wog vermutlich knapp viermal so viel, aber es war nicht zu übersehen, daß er Angst vor dem kahlköpfigen Gnom hatte.
»Es ist in Ordnung«, sagte Charity zu dem jungen Burschen. »Sie können uns allein lassen.«
»Sind sie sicher?« fragte der Soldat. »Ich meine, der Kleine da -«
»Ganz sicher«, sagte Charity. »Warten Sie draußen vor der Tür. Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.«
Der Soldat betrachtete sie noch eine weitere Sekunde unschlüssig, aber dann deutete er ein Schulterzucken an, trat aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu.
»Man könnte meinen, daß ich mich von kleinen Kindern ernähre und ab und zu nur so zum Zeitvertreib eine kleine Stadt niederbrenne«, maulte Gurk. »Was hast du ihnen über mich erzählt?«
»Nichts«, antwortete Charity. »Bis vor anderthalb Tagen wußte ich noch nicht einmal, daß es dich noch gibt. Ich dachte, du wärst tot. Wir alle dachten, du hättest den Löffel abgegeben.«
Sie ging zum Tisch, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder, so daß ihr und Gurks Gesicht sich auf gleicher Höhe befanden. Zum erstenmal, seit sie den Außerirdischen wiedergesehen hatte, fand Charity die Gelegenheit, ihn wirklich genauer in Augenschein zu nehmen.
Gurk schien sich nicht verändert zu haben. Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, waren mehr als acht Jahren vergangen, und Charity wußte, daß Dinge - und ganz besonders Gesichter - dazu neigten, sich in der Erinnerung zu verändern. Gurk aber schien noch haargenau so zu sein wie damals.
Charity wußte nicht viel über ihn, und noch weniger über das Volk, zu dem er gehörte. Möglicherweise lebte diese Spezies Jahrhunderte, vielleicht sogar noch viel länger, so daß eine Kleinigkeit wie acht Jahre überhaupt keine Spuren in seinem Gesicht hinterlassen konnten.