Und trotzdem... irgendwie hatte sie damit gerechnet, daß Gurk sich verändert hätte, und sei es nur um eine Winzigkeit.
»Willst du jetzt weitere anderthalb Tage damit verbringen, mich anzustarren?« fragte Gurk.
»Nein«, antwortete Charity. »Wie geht es dir? Haben sie dich gut behandelt?«
Die zweite Frage war im Grunde überflüssig. Die »Zelle«, in die Hartmann den Zwerg hatte sperren lassen, war in Wirklichkeit ein Apartment, das um einiges größer und luxuriöser ausgestattet war als das, das Charity selbst und Skudder bewohnten.
»Natürlich haben sie mich nicht gut behandelt!« giftete Gurk. »Aber was beschwere ich mich überhaupt? Ich bin ja selbst daran schuld! Schließlich habe ich gewußt, was für ein undankbares Pack ihr seid! Niemand hat mich gezwungen, zurück zu kommen!«
»Aber du hast es getan«, erwiderte Charity. Sie schaute auf die Uhr. Die Versammlung, von der Skudder gesprochen hatte, begann in zehn Minuten. Sie würde ohnehin zu spät kommen, doch irgend etwas sagte ihr, daß es besser war, den Bogen nicht zu überspannen.
»Ich habe nicht viel Zeit, Gurk«, sagte sie.
»Aber wahrscheinlich eine Million Fragen«, vermutete der Zwerg.
»Zwei«, verbesserte ihn Charity. »Wenn nicht mehr. Aber die müssen warten. Im Moment interessiert mich nur eins: Hast du sie hierher gebracht?«
Gurk blinzelte. Seine Verblüffung war echt.
»Wie?« krächzte er.
»Ich meine es ernst, Gurk«, sagte Charity. »Diese Fremden, wer immer sie auch sind - hast du sie hierher gebracht?«
»Bist du verrückt?« fragte Gurk.
»Keineswegs«, antwortete Charity. »Aber ich habe Augen im Kopf. Und ich kann zwei und zwei zusammenzählen, weißt du. Dieser zweite Überfall galt dir. Einzig und allein.«
Gurk lachte. Es wirkte nicht echt.
»Du schmeichelst mir, Cherryschätzchen«, sagte er. »Sie haben mindestens zwanzig Schiffe verloren... ich bin vielleicht wichtig, aber so wichtig nun auch wieder nicht.«
»Sie hatten es auf dich abgesehen«, beharrte Charity.
»Auch auf mich, das stimmt«, sagte Gurk. »Ich sagte dir doch, sie sind ein ziemlich nachtragender Haufen. Hätte ich gewußt, daß sie so kleinlich sind, hätte ich ihr Schiff wahrscheinlich nicht geklaut. Mein Fehler - tut mir aufrichtig leid.«
»Glaubst du, das wäre jetzt der richtige Moment für dumme Witze?« fragte Charity mit aufkeimendem Unmut.
»Ich mache keine Scherze.« Gurk wurde plötzlich sehr ernst. »Ja, du hast recht. Dieser zweite Angriff galt mir. Sie wollten wohl verhindern, daß ich euch in die Hände falle. Ich nehme an, sie hatten Angst, daß ich euch zu viel erzähle. Dabei weiß ich gar nicht soviel. Aber ich schätze, sie glauben, daß ich eine Menge weiß.«
»Auf jeden Fall weißt du eine Menge mehr als wir«, sagte Charity. »Wer sind sie?«
»Ich dachte, du hättest keine Zeit«, sagte Gurk. »Es ist eine ziemlich lange Geschichte.«
»Das dachte ich mir schon«, erwiderte Charity. »Deshalb wirst du sie auch nicht hier erzählen. Komm mit.«
Sie stand auf, ging zur Tür und klopfte mit den Fingerknöcheln dagegen. Genau einmal, dann wurde die Tür regelrecht aufgerissen, noch bevor Charity die Hand vollends zurückgezogen hatte.
»Alles in Ordnung?« fragte der junge Soldat, während er versuchte, an Charity vorbei einen Blick auf Gurk zu werfen.
Charity lächelte fast gegen ihren Willen. Der Bursche war kaum mehr als ein Kind, der eigentlich nicht in eine Uniform gehörte, geschweige denn in den Besitz einer Waffe. Aber er nahm seine Aufgabe offensichtlich sehr ernst.
»Alles in Ordnung?« fragte er noch einmal.
»Ja«, antwortete Charity. »Vielen Dank. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ab jetzt übernehme ich den Gefangenen.«
Der Soldat blinzelte. »Wie bitte?«
»Ich nehme ihn mit«, sagte Charity. »Seine Anwesenheit ist bei der Ratsversammlung erforderlich.«
»Ich glaube nicht, daß das... geht«, antwortete der Posten zögernd. »Mister Hartmann -«
»General Hartmann«, unterbrach ihn Charity betont und eine Spur schärfer, allerdings immer noch freundlich, »ist für den Gefangenen ab sofort nicht mehr zuständig. Ich übernehme die volle Verantwortung. Sie können den General gerne anrufen, wenn Sie es wünschen.«
Ihr Gegenüber wurde mit jeder Sekunde nervöser. Charity spielte ein gefährliches Spiel. Strenggenommen war Hartmann ihr militärischer Vorgesetzter, ebenso wie Drasko, Harris und andere... so ziemlich jedes Mitglied des Rates. Sie konnte hier niemandem etwas befehlen.
Aber sie war immer noch Charity Laird, und allein das Gewicht ihres Rufes, der ihr vorauseilte, brachte auch in diesem Fall wieder die Entscheidung.
Manchmal, dachte sie mit leiser Ironie, hat es eben seine Vorteile, eine lebende Legende zu sein.
»Ich muß... das melden«, sagte der Soldat zögernd, und Charity wußte, daß sie gewonnen hatte. Ohne sich zu dem jungen Burschen herumzudrehen, winkte sie Gurk heran. Sie konnte hören, wie der Zwerg einen Moment lang zögerte, dann aber mit schnellen Schritten herankam und an ihr vorüberging.
Und dann tat er natürlich genau das, was Charity befürchtet hatte: Sie hatte gehofft, daß es nicht passieren würde, doch Gurk war eben Gurk: Stolz erhobenen Hauptes ging er an dem jungen Soldaten vorbei. Aber dann blieb er plötzlich stehen, drehte sich noch einmal zu ihm herum, streckte dem vollkommen fassungslosen Mann die Zunge heraus und drehte ihm eine lange Nase.
Er hat sich wirklich nicht verändert, dachte Charity resignierend. Nicht im geringsten.
Der Tumult, der durch Gurks plötzliches Auftauchen in der Ratsversammlung ausgelöst wurde, war nicht so schlimm, wie Charity erwartet hatte.
Im Grunde blieb er sogar beinahe aus. Die Versammlung - die sich im Laufe der nächsten anderthalb Stunden mehr und mehr als eine Krisensitzung entpuppte - war bereits im vollen Gange, als Charity den Konferenzraum betrat. Sie kam trotz allem fast eine halbe Stunde zu spät, was ihr persönlich vollkommen egal war, Skudder aber zu einer Kombination aus einem Kopfschütteln und einem mißbilligenden Stirnrunzeln veranlaßte.
Gurks Erscheinen beendete die hitzige Diskussion, die bei Charitys Eintreten im Gange war, von einem Moment auf den anderen. Für zwei oder drei Sekunden breitete sich ein fast lähmendes Schweigen in dem halb abgedunkelten Raum aus, dann sprang eines der Ratsmitglieder mit einer so heftigen Bewegung auf, daß sein Stuhl umfiel. Charity stellte ohne sonderlich große Überraschung fest, daß es sich um Gouverneur Drasko handelte.
»Was... was soll das?« keuchte er. Seine Hand wies anklagend auf Gurk. »Was tut dieses... Alien hier?«
Charity seufzte. »Man sollte Fremdworte nie benutzen, wenn man ihre genaue Bedeutung nicht kennt«, murmelte sie, wohlweislich aber so leise, daß außer Gurk vermutlich niemand die Worte verstand. Lauter, und mit einer entsprechenden Geste auf den Außerirdischen, fuhr sie fort: »Gouverneur Drasko, das ist Haraach Ibn Al Gurk Ben Amar Ibn Lot Fuddel der Vierte. Ein guter alter Freund.«
»Der Fünfte«, korrigierte sie Gurk.
»Der Fünfte?«
»Der Fünfte.«
Drasko ächzte. »Das... das ist ein Scherz.«
»Das vermute ich auch, seit ich ihn kenne«, bestätigte Charity, »aber er hat sich diesen Namen nun einmal zugelegt, und -«
»Ich meine nicht den Namen, Captain Laird«, unterbrach Drasko sie betont. »Ich meine Ihre Behauptung, daß dieser... diese Kreatur Ihr Freund ist.«
Charity zählte in Gedanken langsam bis drei, ehe sie antwortete. Sie hatte nicht erwartet, mit offenen Armen aufgenommen zu werden, wenn sie zusammen mit Gurk hier auftauchte, aber diese Reaktion überraschte sie nun doch.