»Okay, zeig uns mal deinen Ausweis«, sagte der betreffende Bulle dann stets und streckte ihm fordernd die Hand durch das heruntergekurbelte Fenster entgegen; und dann, während Fred-Arctor-wer-auch-immer in seiner Brieftasche herumfummelte, pflegte der Bulle ihn anzuschreien: »Schon mal VERHAFTET worden?« Und um das Ritual ein wenig zu variieren, mochte er vielleicht noch hinzufügen: »ZUVOR?« Ganz so, als ob Arctor im nächsten Augenblick ins Loch wandern würde.
»Was liegt denn an?« sagte Arctor dann für gewöhnlich, falls er überhaupt etwas sagte. Natürlich versammelte sich wie von selbst eine Menschenmenge am Ort des Geschehens. Die meisten der Zuschauer nahmen wohl an, der arme Kerl sei beim Dealen an der Straßenecke erwischt worden. Sie grinsten nervös und warteten ab, was wohl weiter geschehen würde. Einige von ihnen – in der Regel Chicanos oder Schwarze oder Typen, denen man auf den ersten Blick ansah, daß sie selber zur Scene gehörten – verfolgten das Geschehen allerdings eher wütend. Aber jene, die wütend aussahen, kapierten schon nach kurzer Zeit, daß sie wütend aussahen und beeilten sich tunlichst, einen eher unbeteiligten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Weil es nämlich ein offenes Geheimnis war, daß jeder, der in Anwesenheit von Bullen wütend oder unbehaglich dreinblickte – was nun davon, war egal –, offenbar etwas zu verbergen hatte. Wenn man den Gerüchten, die so im Umlauf waren, Glauben schenken wollte, dann wußten das gerade auch die Bullen und nahmen sich ausgerechnet diese armen Teufel als nächste vor.
Heute jedoch belästigte niemand Bob Arctor. Eine Menge Scenerypen liefen hier herum; er war nur einer unter vielen.
Was bin ich eigentlich? fragte er sich. Er sehnte sich einen Augenblick lang nach seinem Jedermann-Anzug. Dann, dachte er, könnte ich als vager Fleck weitergehen, und die Passanten, das ganze Volk, würden applaudieren. Bühne frei für den vagen Fleck! dachte er und spulte die ganze Szene im Lyons-Club noch einmal in seinem Kopf ab. Was für eine Art, Anerkennung zu finden! Wie konnten sie sich zum Beispiel eigentlich sicher sein, daß er der richtige vage Fleck war und nicht ein anderer? Es könnte jemand anderes als Fred darinstecken, oder ein anderer Fred, und sie würden das nie erfahren, nicht einmal dann, wenn Fred den Mund aufmachte und redete. Sie würden es nicht einmal dann wirklich wissen. Sie würden es nie wissen. Beispielsweise könnte der Träger des Jedermann-Anzuges Al sein, der nur vorgab, Fred zu sein. Jeder Beliebige könnte darin stecken, ja, der Anzug könnte sogar leer sein. Vom Orange County-Polizeihauptquartier könnten sie per Funk eine Stimme in den Jedermann-Anzug senden, könnten ihm vom Büro des Sheriffs aus auf diese Weise Leben einhauchen. Fred könnte jeder x-beliebige sein, der zufällig an diesem Tag an seinem Schreibtisch sitzt und zufällig das Drehbuch und das Mikro findet; eine Einzelperson oder eine ganze Verschwörung von Typen an ihren Schreibtischen.
Aber ich nehme an, daß dank der Schlußworte meiner Ansprache diese Möglichkeit wohl doch nicht in Betracht kommt. Die Jungs drüben im Büro wollen ja gerade darüber mit mir sprechen. Da er nicht besonders scharf auf diese Aussprache war, trödelte er weiter herum, um so das Treffen hinauszuschieben. Sein zielloses Herumwandern führte ihn nirgendwohin und zugleich doch überallhin. In Kalifornien machte es ohnehin keinen Unterschied, wohin man ging; überall stieß man auf denselben McDonaldburger-Stand, wieder und wieder, wie bei einer gemalten, kreisförmigen Kulisse, die an einem vorbeiläuft, während man vorgibt, irgendwohin zu gehen. Und wenn man schließlich Hunger bekam, und an den McDonaldburger-Stand trat und einen Hamburger von McDonald’s kaufte, war es genau derselbe, den sie einem schon beim letzten Mal verkauft hatten und beim Mal davor und immer so weiter, bis zurück in jene Zeit, bevor man geboren worden war. Und um das Maß voll zu machen, behaupteten böse Zungen auch noch, daß er aus Truthahnmägen bestand. Was natürlich nur eine ganz üble Lüge sein konnte.
Wenn man den Reklameschildern glauben schenken wollte, dann hatten sie denselben Original-Hamburger mittlerweile fünfzig Milliarden Mal verkauft. Vielleicht sogar immer an denselben Kunden? Das Leben in Anaheim, Kalifornien, war ein einziger, verselbständigter Werbespot, der endlos wiederholt wurde. Nichts änderte sich; alles breitete sich nur weiter und weiter in Form von Neonschleim aus. Das, was diese Stadt in immer größeren Mengen überschwemmte, schien schon vor langer Zeit unabänderlich festgelegt worden zu sein; es war, als ob sich die automatische Fabrik, die diese Objekte ausspuckte, nicht mehr abschalten ließe, nachdem man einmal auf den Startknopf gedrückt hatte. Der .Aus-Schalter war blockiert. Wie aus dem Land Plastik wurde, dachte Arctor und erinnerte sich an das alte Märchen »Wie aus dem Meer Salz wurde«. Eines Tages, dachte er, wird es gesetzlich vorgeschrieben sein, daß wir alle den McDonalds-Hamburger sowohl kaufen als auch wieder verkaufen müssen; wir werden ihn in alle Ewigkeit von unseren Wohnzimmern aus hin und her verkaufen. Auf diese Weise werden wir nicht einmal mehr nach draußen gehen müssen!
Arctor schaute auf die Uhr. Halb drei: Zeit, sich ans Telefon zu hängen und sich um Nachschub zu kümmern. Donna hatte ihm gesagt, daß er über sie einen guten Deal machen könne – schätzungsweise tausend Tabletten mit Substanz T, verschnitten mit Meth.
Sobald er den Stoff hatte, würde er ihn natürlich an das Amt für Drogenmißbrauch des County weiterleiten, damit die Tabletten analysiert und dann vernichtet werden konnten – oder was immer sie damit vorhaben mochten. Sie vielleicht selber einpfeifen, wie das jedenfalls ein Gerücht behauptete. Oder sie wieder verkaufen. Aber Arctor kaufte nicht von Donna, um sie wegen Dealens hochgehen zu lassen; er hatte schon viele Male bei ihr Stoff gekauft und sie nie festgenommen. Darum ging es ihm gar nicht. Warum sollte man auch einen Gelegenheits-Dealer hopsnehmen, eine Puppe, die es cool und in fand, mit Drogen zu handeln? Die Hälfte aller Rauschgift-Agenten im Orange County wußten, daß Donna dealte, und kannten sie vom Sehen. Donna dealte manchmal auf dem Parkplatz des 7-11-Ladens, direkt vor der automatischen Holo-Kamera, die die Polizei dort installiert hatte, und sie war bisher immer damit durchgekommen. Irgendwie konnte Donna nie auf die Schnauze fliegen, ganz egal, was sie tat und wer auch immer sie dabei beobachten mochte.
Arctors sämtliche Drogenkäufe bei Donna dienten letztlich alle nur einem übergeordneten Zieclass="underline" nämlich dem, über Donna die Spur zu dem Nachschublieferanten aufzunehmen, von dem sie ihren Stoff bezog. Eben darum nahmen die Mengen, die er von ihr kaufte, immer mehr zu. Anfangs hatte er sie nur mal beschwatzt – wenn das das richtige Wort dafür war –, ihm mit zehn Tabletten auszuhelfen. Nur ein persönlicher Gefallen, so von Freund zu Freund … Später dann hatte er, sozusagen als Wiedergutmachung, ein Päckchen mit hundert Tabletten gekauft, und schließlich sogar gleich drei Päckchen auf einmal. Jetzt konnte er, wenn er Glück hatte, tausend Tabletten auf einen Schlag herausholen, was zehn Päckchen entsprach. Und bald würde er dazu übergehen, regelmäßig in solchen Mengen zu kaufen, daß Donna finanziell nicht mehr mithalten konnte; sie würde ihrem Nachschublieferanten nicht mehr so viel Geld vorschießen können, daß dieser sich noch auf das Geschäft einzulassen wagte. Deshalb würde sie in der Klemme sitzen, statt einen großen Profit zu machen. Natürlich würden sie feilschen; Donna würde darauf bestehen, daß Arctor wenigstens einen Teil des Geldes im voraus bezahlte; er aber würde ablehnen. Sie wiederum würde die Summe allein aus ihren Mitteln nicht aufbringen können, und die Zeit würde knapp werden – selbst bei einem so kleinen Deal würde das große Zittern beginnen. Alle Beteiligten würden ungeduldig werden; Donnas Nachschublieferant – wer immer das auch sein mochte – würde wie auf heißen Kohlen sitzen, seine Ware nicht loswerden können und langsam ausflippen, weil Donna nichts von sich hören ließ. Wenn alles nach Plan verlief, würde Donna schließlich aufgeben und zu Arctor und ihrem Lieferanten sagen: »Wißt ihr was? Ihr beide dealt besser direkt miteinander. Ich kenne euch beide; ihr seid beide coole Typen, für die ich die Hand ins Feuer legen würde. Ich werde einen Ort und eine Zeit festlegen, und ihr zwei könnt selber Kontakt miteinander aufnehmen. So, Bob, von jetzt an kannst du direkt kaufen, wenn du weiterhin in solchen Mengen kaufen willst.« Denn wer wie Bob Arctor so viel Stoff brauchte, wollte mit Sicherheit selbst als Profi-Dealer ins Geschäft einsteigen; die Mengen, um die es jetzt ging, näherten sich bereits dem Einkaufsvolumen der richtigen großen Dealer. Donna würde vermuten, daß Arctor den Stoff, den er von ihr bezog, mit Gewinn weiterverkaufte, da er nun immer mindestens tausend auf einmal haben wollte. Auf diese Weise konnte Arctor die nächste Sprosse der Leiter erklettern und zum nächsten Hintermann vorstoßen. War er erst einmal selbst ein Dealer wie dieser, mochte er später vielleicht noch eine Stufe höher kommen, und dann noch eine, je nachdem, wie die Mengen, die er kaufte, wuchsen.