Wenn ein Dealer merkte, daß man ihn bald hochnehmen würde, suchte er manchmal Zuflucht in den Rehabilitationszentren für Drogenabhängige, also etwa in Syanon, Center Point und X-Kalay oder auch beim Neuen Pfad. Er gab sich dann als Süchtiger aus, der Hilfe suchte, War er erst einmal drinnen, nahm man ihm alles ab, was ihn hätte identifizieren können, von seiner Brieftasche bis zu seinem Namen. Das war eine flankierende Maßnahme, um den Aufbau einer neuen, nicht drogenorientierten Persönlichkeit zu erleichtern. Im Zuge dieses Auslöschungsprozesses verschwand vieles, was die Polizeibehörden brauchten, um eine gesuchte Person ausfindig zu machen. Später dann, wenn die unmittelbare Gefahr vorüber war, tauchte der Dealer wieder draußen auf und ging erneut seinen üblichen Beschäftigungen nach.
Wie oft dies geschah, wußte niemand. Zwar versuchten die Angestellten der Rehabilitationszentren, dahinterzukommen, wenn sie auf diese Weise ausgenützt wurden, aber das gelang ihnen nur in den seltensten Fällen. Einem Dealer, dem draußen vierzig Jahre Haft drohten, fiel schnell eine gute Geschichte ein, die er den Leuten in den Zentren, die die Macht hatten, darüber zu entscheiden, ob er eingelassen werden sollte oder nicht, verklickern konnte. Schließlich litt er wirklich unter Todesangst, wenn er nur an die vierzig Jahre im Knast dachte.
Während er langsam den Katella-Boulevard hinauffuhr, hielt Bob Arctor Ausschau nach dem Schild, das auf das hölzerne Gebäude – ein ehemaliges Privathaus – hinwies, in dem jetzt die energischen Leute vom Neuen Pfad ihr regionales Zentrum unterhielten. Es machte ihm keinen Spaß, sich durch einen Bluff Zugang zu dieser Institution zu verschaffen, indem er vortäuschte, er sei ein Drogenkranker, der dringend Hilfe brauchte. Aber das war der einzige Weg, um hineinzukommen. Wenn er sich als Agent des Amtes für Drogenmißbrauch zu erkennen gab, der jemanden suchte, würden die Leute vom Neuen Pfad – jedenfalls die meisten davon – ganz automatisch ein Ausweichmanöver einleiten. Sie wollten nicht, daß Der Mann Mitgliedern ihrer Familie auf die Zehen trat. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, und eigentlich konnte er es ihnen nicht einmal verübeln. Alle ehemaligen Süchtigen sollten im Rehabilitationszentrum sicher sein; und es hatte sich eingebürgert, daß sich das Personal der Zentren offiziell für die Sicherheit derer verantwortlich fühlten, die sich vertrauensvoll in ihre Obhut begaben. Andererseits war der Dealer, hinter dem Arctor her war, ein mit allen Wassern gewaschener Ganove, und wenn er ein Rehabilitationszentrum in dieser Weise mißbrauchte, lief das den berechtigten Interessen aller Beteiligter zuwider. Weder Arctor noch Mr. F. der ihn ursprünglich auf Spade Weeks angesetzt hatte, hatten angesichts dieser Sachlage anders entscheiden können. Weeks war schon seit Ewigkeiten die Nummer Eins auf Arctors Liste gewesen, bisher allerdings ohne greifbare Ergebnisse. Und nun war Weeks spurlos verschwunden – und das seit vollen zehn Tagen.
Arctor entdeckte das Hinweisschild, stellte seinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz ab, den sich der Neue Pfad mit einer Bäckerei teilte, und ging schwankend den Weg zur Pforte hinauf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben: das heulende Elend in Person, offensichtlich bis zum Stehkragen voll mit schlechtem Dope und down wie ‘n Weltmeister.
Wenigstens machte ihm die Abteilung keine Vorwürfe, daß er Spade Weeks verloren hatte. Das bewies nur, wie aalglatt Weeks war. Eigentlich war Weeks eher ein Runner als ein Dealer; er brachte in unregelmäßigen Zeitabständen Lieferungen mit harten Drogen von Mexiko herauf bis irgendwo kurz vor L. A. wo die Käufer sich trafen und die Ware aufteilten. Weeks’ Methode, die Lieferungen heimlich über die Grenze zu bringen, war wirklich clever: Er befestigte den Stoff mit Klebestreifen an der Unterseite des Wagens irgendeines Spießertypen, der vor ihm am Grenzübergang wartete, verfolgte den Macker dann bis auf die US-Seite und schoß ihn bei der ersten passenden Gelegenheit nieder. Wenn die US-Grenzer das Rauschgift an der Unterseite des Wagens des Spießers entdeckten, dann wurde eben der Spießer einkassiert und nicht Weeks. Rauschgiftbesitz ist in Kalifornien ein Kapitalverbrechen. Pech für den Spießer, seine Frau und seine Kinder.
Kein anderer Geheimer Rauschgift-Agent im ganzen Orange County hätte Weeks so sicher auf den ersten Blick erkannt wie Arctor: ein fetter schwarzer Macker in den Dreißigern mit einem einzigartig langsamen und eleganten Sprachstil, der den Eindruck erweckte, als hätte Weeks ihn sich in irgendeiner Snobby-Schule in England angewöhnt. In Wirklichkeit kam Weeks aus den Slums von L. A. Er hatte seine besondere Diktion wahrscheinlich von Sprachlehrbändern, die er sich aus irgendeiner College-Bibliothek geliehen hatte.
Weeks liebte es, sich dezent, aber gediegen zu kleiden, etwa so, als sei er ein Arzt oder Rechtsanwalt. Oft hatte er einen teuren Diplomatenkoffer aus Alligatorenhaut bei sich und trug eine Brille mit Horngestell. Auch war er für gewöhnlich bewaffnet – mit einer Schrotflinte, für die er extra einen italienischen Pistolengriff in Maßanfertigung in Auftrag gegeben hatte. Wirklich sehr smart und stilvoll. Aber im Neuen Pfad würde man ihm all diese auserlesenen Stücke eins nach dem anderen weggenommen haben, und jetzt würde er wie jeder andere Patient hier in Klamotten aus der letzten Altkleidersammlung herumlaufen, während sein Diplomatenköfferchen in einem Schrank verstaubte.
Arctor öffnete die massive Holztür und trat ein.
Ein düster wirkendes Foyer, zu seiner Linken eine Sitzecke, in der ein paar Burschen herumlungerten und lasen. Eine Tischtennisplatte im Hintergrund, dann eine Küche. Slogans an den Wänden, einige handgemalt und einige gedruckt: DAS EINZIGE WIRKLICHE VERSAGEN IST, SICH ANDEREN ZU VERSAGEN und so weiter. Wenig Lärm, wenig Aktivität. Der Neue Pfad unterhielt eigene Werkstätten und kooperierte auch mit normalen Firmen; wahrscheinlich waren die meisten der Insassen, sowohl die Jungs als auch die Puppen, derzeit an ihren Arbeitsstellen in den Perückenmachereien, Tankstellen und Kugelschreiberfabriken. Arctor stand da und wartete müde.
»Ja?« Ein hübsches Mädchen erschien. Sie trug ein extrem kurzes blaues Baumwollhemd und ein T-shirt, auf dem zwischen den Brustwarzen DER NEUE PFAD aufgedruckt war.
Mit einer krächzenden und kraftlosen Stimme sagte Arctor: »Ich bin … total down. Ich krieg’s nicht mehr zusammen. Kann ich mich irgendwohin setzen?«
»Klar.« Das Mädchen winkte, und zwei farblose, unbeteiligt wirkende Burschen tauchten auf. »Bringt ihn irgendwohin, wo er sich hinsetzen kann. Und holt ihm einen Kaffee.«
Was für eine Horrorshow, dachte Arctor, während er sich von den beiden Typen zu einer schäbig aussehenden Couch schleifen ließ. Deprimierende Wände, dachte er. Häßliche Farben. Wahrscheinlich eine Spende. Der Neue Pfad konnte sich jedoch nur auf der Grundlage solcher Spenden überhaupt über Wasser halten, weil es schwierig war, Unterstützung von der öffentlichen Hand zu erhalten. »Danke«, röchelte er zittrig, als ob es eine überwältigende Erleichterung sei, hier zu sein und zu sitzen. »Wow«, sagte er und versuchte, sein Haar glattzustreichen; er tat so, als könnte er das nicht und gab auf.
Das Mädchen, das jetzt direkt vor ihm stand, sagte: »Sie sehen wie ausgekotzt aus, Mister.«
»Yeah«, stimmten die beiden Burschen in einem überraschend lebhaften Tonfall zu. »Wie ein Haufen Scheiße. Was haben Sie eigentlich gemacht? In Ihrer eigenen Scheiße gelegen?«
Arctor blinzelte.
»Wer sind Sie?« fragte einer der Typen.