»Du kannst doch sehen, was er ist«, sagte der andere. »Abschaum von einer beschissenen Müllhalde. Sieh dir das mal an.« Er zeigte auf Arctors Haare. »Läuse. Darum juckt’s dir, Jack.«
Das Mädchen, ruhig und über allem stehend, sagte nicht eben herzlich: »Warum sind Sie hierhergekommen, Mister?«
Im stillen dachte Arctor: Weil ihr hier drinnen einen ganz dicken Fisch habt. Und ich bin Der Mann. Und ihr seid blöde, ihr alle. Aber er sprach das nicht laut aus, sondern murmelte statt dessen kriecherisch das, was offensichtlich von ihm erwartet wurde: »Sagten Sie nicht –«
»Ja, Mister, Sie können Kaffee haben.« Das Mädchen ruckte mit dem Kopf, und einer der Burschen lief los zur Küche.
Eine Pause. Dann beugte sich das Mädchen zu ihm nieder und berührte sein Knie. »Sie fühlen sich ziemlich mies, was?« sagte sie sanft.
Er konnte nur nicken.
»Sie empfinden Scham und Ekel vor dem Ding, das Sie jetzt sind«, sagte sie.
»Yeah«, pflichtete er bei.
»Und Sie ekeln sich vor der Umweltverschmutzung, die Sie in sich selbst angerichtet haben. Sie sind eine Jauchegrube geworden. Stecken sich Tag für Tag die Nadel in den Arsch, pumpen ihren Körper voll mit –«
»Ich konnte nicht mehr so weitermachen«, sagte Arctor. »Dieser Ort ist die einzige Hoffnung, an die ich denken konnte. Ich hatte einen Freund, der auch hierherkommen wollte. Jedenfalls hat er mir das erzählt. Ein schwarzer Macker, in den Dreißigern, gebildet, sehr höflich und –«
»Sie werden die Familie später kennenlernen«, sagte das Mädchen. »Wenn Sie sich für die Aufnahme qualifizieren. Zuerst müssen Sie unseren Anforderungen genügen, Sie verstehen. Und die erste ist Ihr aufrichtiges Bedürfnis.«
»Das habe ich«, sagte Arctor. »Ein aufrichtiges Bedürfnis.«
»Sie müssen schon übel dran sein, um hier eingelassen zu werden.«
»Das bin ich«, sagte er.
»Wie schlimm hat es Sie denn schon erwischt? Bei welcher Dosis sind Sie mittlerweile angelangt?«
»Dreißig Gramm am Tag«, sagte Arctor.
»Pur?«
»Yeah.« Er nickte. »Ich habe immer eine Zuckerdose voll davon auf dem Tisch.«
»Dann wird es unheimlich rauh werden. Sie werden die ganze Nacht über Ihr Kissen zernagen, bis die Federn nur so fliegen; überall werden Federn sein, wenn Sie aufwachen. Und Sie werden Anfälle haben und Schaum vor dem Mund. Und sich beschmutzen, so, wie kranke Tiere es tun. Sind Sie dazu bereit? Sie wissen doch: Wir geben Ihnen hier nichts.«
»Dagegen hilft sowieso nichts«, sagte er. Mann, war das hier ein Horrortrip! Er fühlte sich gereizt und unbefriedigt. »Mein Kumpel«, sagte er, »der schwarze Kerl. Hat er’s geschafft, hierherzukommen? Ich will nur hoffen, daß ihn die Schweine nicht auf dem Weg hierher gekascht haben – er war so weggetreten, daß er kaum noch navigieren konnte. Er dachte –«
»Es gibt keine einzelnen Zweierbeziehungen im Neuen Pfad«, sagte das Mädchen. »Aber das werden Sie noch lernen.«
»Yeah, aber hat er’s bis hierhin geschafft?« sagte Arctor. Er begriff, daß er nur seine Zeit verschwendete. Herr im Himmel, dachte er, das ist ja noch schlimmer als in unserer Clique. Blödes Spiel. Und sie wird den Teufel tun, mir was zu sagen. Das ist ihre Politik, erkannte er. Wie ein eiserner Vorhang. Wenn jemand erst mal in eines dieser Zentren hineingeht, dann ist er für die Welt draußen tot. Spade Weeks könnte gerade jetzt, in diesem Augenblick, hinter der Trennwand sitzen, uns zuhören und sich den Arsch ablachen. Oder vielleicht ist er überhaupt nicht hier. Sogar mit einem Haftbefehl ließe sich hier gar nichts erreichen. Die Leute vom Neuen Pfad haben den Dreh raus, wie sie mit ihrer Verzögerungstaktik die Polizisten so lange hinhalten konnten, bis der Gesuchte durch eine Seitentür verschwunden war oder sich sonstwie dünne gemacht hatte. Schließlich setzte sich das Personal selbst aus ehemaligen Süchtigen zusammen. Und keine Polizeibehörde würde riskieren, eine regelrechte Razzia in einem der Rehabilitationszentren durchzuführen. Das wäre ein Stich in ein Wespennest gewesen – und die Behörden hätten sich vor den Beschwerden der Öffentlichkeit kaum mehr retten können.
Zeit, Spade Weeks endgültig abzuhaken, entschied Arctor, und mich zu verdünnisieren. Kein Wunder, daß meine Chefs mich noch nie zuvor hierhergeschickt haben; mit den Leuten hier kommt man einfach nicht klar. Und dann dachte er: Und für mich heißt das, daß ich meinen derzeitigen Hauptjob verloren habe; Spade Weeks existiert nicht mehr.
Ich werde Mr. F. Bericht erstatten, sagte er sich, und einen neuen Auftrag abwarten. Zur Hölle damit. Er erhob sich steifbeinig und sagte: »Ich mach ma’ lieber wieder ‘n Abflug.« Die beiden Typen waren jetzt zurückgekommen, einer von ihnen mit einem Becher Kaffee, der andere mit so ‘ner Art Traktätchen, wahrscheinlich einer vom Neuen Pfad herausgegebenen Informationsbroschüre.
»Mann, du willst dich echt verpissen?« sagte das Mädchen hochmütig und voller Verachtung. »Hast wohl die Hosen so voll, daß du nicht mal bei deiner Entscheidung bleiben kannst, aus dem ganzen Dreck rauszukommen? Du willst echt wieder auf dem Bauch hier rauskriechen?«
Alle drei starrten ihn zornig an.
»Vielleicht ‘n andermal«, sagte Arctor und bewegte sich auf die Vordertür zu. Er wollte bloß noch hier raus.
»Du beschissener Doper«, schleuderte ihm das Mädchen nach. »Kein Mumm in den Knochen, ‘n ausgelutschtes Gehirn, sonst nichts. Kriech raus, ja, kriech nur; das ist einzig und allein deine Entscheidung.«
»Ich werde später zurückkommen«, sagte Arctor verärgert. Die Atmosphäre hier bedrückte ihn, und sie war noch schlimmer geworden, weil er jetzt abhaute.
»Wir wollen dich dann vielleicht hier gar nicht mehr haben, du Schwächling«, sagte einer der Typen.
»Du wirst betteln müssen«, sagte der andere. »Du wirst betteln und winseln müssen. Und sogar dann wollen wir dich vielleicht nicht mehr haben.«
»Eigentlich wollen wir dich jetzt schon nicht mehr haben«, sagte das Mädchen.
An der Tür blieb Arctor stehen und wandte sich zu seinen Anklägern um. Er wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein. Sie hatten seinen Geist leer gemacht.
Sein Gehirn wollte nicht mehr funktionieren. Keine Gedanken, keine Erwiderung, keine passende Antwort auf ihre Anklagen, nicht mal eine lausige oder läppische, kam ihm in den Sinn.
Seltsam, dachte er und war verblüfft. Und er verließ das Gebäude und ging zu seinem geparkten Wagen.
Soweit es mich betrifft, dachte er, ist Spade Weeks für immer verschwunden. Mich kriegen keine zehn Pferde mehr in eines dieser Zentren. Nie im Leben.
Zeit, entschied er übellaunig, um einen neuen Auftrag zu bitten. Sich jemand anderem an die Fersen zu heften.
Sie sind zäher als wir.
IV
Aus der sicheren Deckung seines Jedermann-Anzugs heraus beobachtete der vage Fleck, der unter dem Decknamen »Fred« zur Berichterstattung erschienen war, einen anderen vagen Fleck, der ihm an einem großen Schreibtisch gegenübersaß und den er nur unter dem Namen Hank kannte.
»So viel zu Donna, zu Charles Freck und – einen Moment bitte …« Das metallische, monotone Klicken, das Hanks Stimme war, setzte eine Sekunde lang aus. »Richtig, Jim Barris können wir auch abhaken.« Hank machte sich eine kurze Notiz auf dem Block, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Sie glauben, daß Doug Weeks möglicherweise tot ist oder unseren Bezirk verlassen hat?«
»Oder er ist untergetaucht und stellt sich nur tot«, sagte Fred.
»Haben Sie mal gehört, daß jemand diesen Namen erwähnt hat: Earl oder Art de Winter?«
»Nein.«
»Was ist mit einer Frau namens Molly? Ziemlich korpulent?«
»Nein.«
»Und was ist mit zwei Negern, Brüder, ungefähr zwanzig, ziemlich dunkle Haut? Sie sollen Hatfield oder so ähnlich heißen. Möglicherweise handeln sie mit Kilopäckchen Heroin.«