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»Kilopäckchen? Kilopäckchen Heroin?«

»Stimmt.«

»Nein«, sagte Fred. »Daran würde ich mich bestimmt erinnern.«

»Jemand aus Schweden, groß, schwedisch klingender Name? Männlich. Vorbestraft, trockener Humor. Ein kräftiger Mann, aber dünn. Trägt eine Menge Bargeld mit sich rum, vielleicht aus dem Erlös einer Lieferung zu Beginn des Monats?«

»Ich werd’ die Augen offenhalten«, sagte Fred. »Kilopäckchen!« Er schüttelte den Kopf – oder besser gesagt: Der vage Fleck schwankte hin und her.

Hank kramte in seinen holografischen Aufzeichnungen herum. »Hm, der hier ist im Gefängnis.« Er hielt kurz ein Bild hoch und las dann den Text auf der Rückseite. »Nein, dieser hier ist tot; sie haben die Leiche unten.« Er suchte weiter. Zeit verstrich. »Glauben Sie, daß die kleine Jora auf den Strich geht?«

»Ich bezweifle es.« Jora Kajas war erst fünfzehn. Trotzdem hing sie schon an der Nadel, fixte Substanz T. Sie wohnte in einem Slum in Brea, in einer Dachkammer, die nur von der Streu wärme eines Wassererhitzers notdürftig geheizt wurde. Joras einzige Einkommensquelle war ein Schulgeldstipendium des Staates Kalifornien, für das sie sich vor Beginn ihrer Sucht durch gute schulische Leistungen qualifiziert hatte. Fred wußte, daß sie seit sechs Monaten nicht mehr zum Unterricht gegangen war.

»Wenn Sie’s tut, lassen Sie’s mich wissen. Dann können wir die Eltern belangen. «

»Okay. « Fred nickte.

»Junge, die Teenies gehen wirklich besonders schnell den Bach runter. Kürzlich hatten wir ein Mädchen hier – die Kleine sah aus wie fünfzig. Strähniges graues Haar, fast keine Zähne mehr, Augen tief in den Höhlen, Arme wie Pfeifenreiniger … Wir haben sie gefragt, wie alt sie sei, und sie sagte: ›Neunzehn‹. Wir haben uns bloß angesehen. ›Weißt du eigentlich, wie alt du aussiehst?‹ sagte meine Kollegin – wissen Sie, so eine Matrone – zu ihr. ›Schau dich doch mal im Spiegel an.‹ Und die Kleine hat in den Spiegel geschaut, und dann hat sie angefangen zu weinen. Ich habe sie gefragt, wie lange sie denn schon schießen würde.«

»Ein Jahr«, sagte Fred.

»Vier Monate.«

»Das Zeug, was momentan im Straßenhandel verkauft wird, ist wirklich unheimlich schlimm«, sagte Fred. Er versuchte krampfhaft, sich nicht vorzustellen, wie das Mädchen da saß: neunzehn Jahre alt, mit Haaren, die ihr büschelweise ausfielen. »Mit noch üblerem Dreck gepanscht als sonst.«

»Wissen Sie, wie sie an die Nadel gekommen ist? Ihre Brüder, beides übrigens Dealer, sind eines Nachts in ihr Schlafzimmer gegangen, haben sie festgehalten und dann vollgeschossen. Anschließend haben sie sie noch durchgebumst. Beide.

Vermutlich, um sie schon mal so richtig auf ihr neues Leben einzustimmen. Die Kleine ging mehrere Monate lang auf den Strich, bevor wir sie schnappten.«

»Und ihre Brüder?« Fred dachte daran, daß sie ihm vielleicht irgendwann einmal über den Weg laufen würden.

»Die sitzen jetzt sechs Monate wegen Rauschgiftbesitz ab. Die Kleine hat sich auf dem Strich den Tripper geholt, ohne es überhaupt zu merken. Darum hat er sich in ihr hochgefressen … na ja, Sie wissen ja, wie das bei Tripper so geht. Ihre Brüder fanden das lustig.«

»Nette Jungs«, sagte Fred.

»Ich will Ihnen mal ‘ne Geschichte erzählen, die Ihnen bestimmt an die Nieren geht. Sie erinnern sich doch noch an die drei Babys drüben im Fairfield-Krankenhaus, denen sie jeden Tag eine Dosis H geben müssen, weil sie noch zu klein sind, um einen Entzug durchstehen zu können? Tja, und eine Krankenschwester hat versucht –«

»Sie haben recht. Das geht mir an die Nieren«, sagte Fred mit seiner monotonen Maschinenstimme. »Ich habe genug gehört, danke.«

Hank fuhr fort: »Wenn man sich überlegt, daß neugeborene Babys heroinsüchtig sind, weil –«

»Danke«, wiederholte der vage Fleck, der Fred genannt wurde.

»Was sollte man Ihrer Meinung nach mit einer Mutter tun, die einem neugeborenen Baby eine Fixe mit Heroin setzt, um es ruhigzuhalten, damit es nicht mehr weint? Sie eine Nacht lang ins Distriktgefängnis sperren?«

»Etwas in der Art«, sagte Fred tonlos. »Vielleicht ein Wochenende lang, wie’s mit den Säufern gemacht wird. Manchmal wünsche ich mir, daß ich wüßte, wie man vor Wut durchdreht. Ich hab’ vergessen, wie das geht.«

»Ja, das ist eine verlorengegangene Kunst«, sagte Hank. »Vielleicht existiert irgendwo ein Handbuch dafür.

»So um 1970 rum gab’s mal einen Streifen«, sagte Fred, »The French Connection, der handelte von einem Zwei-Mann-Team vom Rauschgiftdezernat. Als die sich mal selbst einen Schuß H setzten, klinkte der eine davon total aus und erschoß jeden, der ihm vor die Flinte kam, seine Vorgesetzten eingeschlossen. Dem Typen war inzwischen alles ganz egal.

»Dann ist es vielleicht gar nicht so schlecht, daß Sie nicht wissen, wer ich bin«, sagte Hank. »Sie könnten mich höchstens rein zufällig erwischen. «

»Irgend jemand«, sagte Fred, »wird uns sowieso alle irgendwann einmal erwischen.«

»Und das wird für uns alle eine Erlösung sein. Eine wirkliche Erlösung.« Hank wühlte sich noch tiefer in den Stapel mit Aufzeichnungen. »Jerry Fabin. Den können wir wohl endgültig von der Liste streichen. Spezialklinik. Die Jungs unten im Büro sagen, Fabin habe den zuständigen Beamten auf der Fahrt zur Klinik erzählt, ein angeheuerter Killer – ein kleines Männchen ohne Beine, so ungefähr neunzig Zentimeter groß – sei Tag und Nacht auf einem Wägelchen hinter ihm hergerollt. Aber er hätte niemandem was davon erzählt, weil ihn sonst bestimmt alle für übergeschnappt gehalten hätten und sich schleunigst aus dem Staub gemacht hätten, und dann hätte er ja gar keine Freunde mehr gehabt, niemanden, mit dem er sprechen könnte.«

»Ja«, sagte Fred stoisch. »Fabian ist weg vom Fenster. Ich habe die EEG-Analyse aus der Klinik gelesen. Den können wir vergessen.«

Immer, wenn er Hank so gegenübersaß und seine Rapportnummer abzog, beobachtete er eine tiefgreifende Verwandlung seines innersten Selbst. Normalerweise wurde ihm diese Verwandlung erst nach der Sitzung bewußt, obwohl er schon während des Rapports selbst spürte, daß er aus irgendeinem Grund eine geschäftsmäßige und unbeteiligte Haltung einnahm. Ganz gleich, was in diesem Raum besprochen wurde und um wen sich das Gespräch auch immer drehen mochte – all das hatte für ihn während dieser Sitzungen keinerlei gefühlsmäßige Bedeutung.

Zuerst hatte er geglaubt, das rühre von den Jedermann-Anzügen her, die sie beide trugen; sie konnten beide die körperliche Nähe ihres jeweiligen Gegenüber nicht spüren.

Später kam er jedoch zu dem Schluß, daß es letztlich keinen Unterschied machte, ob sie die Anzüge trugen oder nicht; die Veränderung lag in der Situation selbst begründet. Aus beruflichen Gründen spielte Hank absichtlich die menschliche Wärme und die verschiedenen Gefühle herunter, die manchmal aufzukommen drohten; weder Zorn noch Liebe noch andere tief ergehende Emotionen, gleich welcher Art, würden ihm oder Hank helfen. Was nützte es ihnen denn, ihrer starken persönlichen Betroffenheit freien Lauf zu lassen, wenn sie über Verbrechen – noch dazu Kapitalverbrechen – diskutierten, die von Personen begangen worden waren, die Fred nahestanden und ihm sogar, wie im Falle von Luckman und Donna, teuer waren? Nein, sie mußten ihre Gefühle ausklammern. Und das taten sie beide, er noch mehr als Hank. Sie wurden neutral; sie sprachen in einem neutralen Tonfall; sie sahen neutral aus. Und langsam wurde es immer einfacher, die eigenen Empfindungen zu unterdrücken, selbst ohne vorherige Einstimmung.

Und hinterher sickerten dann alle seine Gefühle wieder in ihn zurück.

Entrüstung angesichts der Geschehnisse, die er hatte mit ansehen müssen. Entrüstung und sogar Entsetzen und, im Nachhinein, lähmender Schock. Große, überwältigende Gefühlssequenzen, die ohne Beispiel waren. Bildfolgen mit viel zu lautem Ton in seinem Kopf.