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»Jaaaaaa«, sagte Charles Freck. Seine Augen weiteten sich, als er den Inhalt des Glases musterte. »Was für ein Riesenvieh! Wow!«

»Hilf mir mal dabei, noch mehr einzufangen, die ich dem Arzt zeigen kann«, sagte Jerry, während er sich erneut auf dem Teppich hinhockte, das Glas neben sich.

»Klar«, sagte Charles Freck und machte sich an die Arbeit.

Binnen einer Stunde hatten sie drei Gläser voller Wanzen. Obwohl Charles sich heute zum ersten Mal an einer Wanzenjagd beteiligte, fand er einige der größten Exemplare.

Das war um die Mittagszeit, irgendwann im Juni 1994, irgendwo in Kalifornien, in einem heruntergekommenen Wohnbezirk mit endlosen Reihen von billigen, aber haltbaren Plastikhäusern, die die Spießer schon längst aufgegeben hatten. Jerry hatte jedoch vor einiger Zeit Metallfarbe über alle Fenster gesprüht, um das Tageslicht draußen zu halten; der Raum wurde nun von einer mehrarmigen Stehlampe erleuchtet, in die er nichts als Punktstrahler geschraubt hatte. Jerry ließ die Punktstrahler Tag und Nacht brennen, um die Zeit für sich und seine Freunde abzuschaffen. Dieser Gedanke gefiel ihm; er liebte es, sich von der Zeit zu befreien. Denn indem er das tat, konnte er sich ohne jede Störung wirklich wichtigen Dingen widmen. Und wichtig war zum Beispiel, daß jetzt zwei Männer auf dem Zottelteppich knieten und eine Wanze nach der anderen auflasen, um sie in eine endlose Batterie von Gläsern zu sperren. »Was springt dabei eigentlich für uns raus?« erkundigte sich Charles Freck später an diesem Tag. »Ich meine, bezahlt uns der Arzt so ‘ne Art Stückpreis für die Viecher? ‘ne Fangprämie? ‘n paar Flöhe?«

»Mir würd’s schon reichen, wenn dabei ein todsicheres Gegenmittel herausspränge«, sagte Jerry. Obwohl die Schmerzen stets gleich blieben, waren sie jetzt unerträglich geworden; er hatte sich nie daran gewöhnen können, und er wußte, daß er sich, verdammt noch mal, auch nie daran gewöhnen würde. Das unwiderstehliche Verlangen, schon wieder zu duschen, überwältigte ihn. »Hey, Mann«, keuchte er und richtete sich auf, »du machst weiter damit, die Viecher in die Gläser zu tun, während ich mal eben unter die Dusche gehe, ja?« Er stürzte in Richtung Badezimmer davon.

»Okay«, sagte Charles. Seine langen Beine zitterten, als er sich zu einem der Gläser herumdrehte, die Hände schalenartig zusammengelegt. Als Ex-Veteran hatte er seine Muskeln jedoch noch immer ganz gut unter Kontrolle; er schaffte es bis zum Glas, ohne umzukippen. Aber dann sagte er plötzlich: »Jerry, hey – diese Wanzen machen mich irgendwie richtig nervös. Du, mir gefällt das gar nicht, wenn ich hier so ganz alleine bin.« Er stand auf.

»Dämlicher Arschficker«, sagte Jerry. Er lehnte sich einen Augenblick lang im Badezimmer an die Wand, schwer atmend vor Schmerzen.

»Könntest du nicht …«

»Ich muß erst ‘ne Runde duschen!« Jerry knallte die Tür zu und drehte an den Reglern der Dusche. Eine Wasserlawine rauschte herab.

»Ich fürchte mich aber hier draußen.« Obwohl Charles Freck offenbar lauthals brüllte, drang seine Stimme nur schwach bis an Jerrys Ohren.

»Dann hau doch ab und fick dich selbst ins Knie!« schrie Jerry zurück und stieg unter die Dusche. Zu was sind Freunde eigentlich gut? fragte er sich verbittert. Zu gar nichts. Scheiße noch mal, wirklich zu gar nichts.

»Stechen diese Scheißviecher?« schrie Charles, der jetzt anscheinend direkt vor der Badezimmertür stand.

»Natürlich stechen sie«, sagte Jerry, während er sich Shampoo in die Haare einmassierte.

»Das hab’ ich befürchtet.« Eine Pause. »Du, kann ich mal reinkommen und mir die Hände waschen, damit ich sie wieder abkriege? Und kann ich dann auf dich warten?«

Kubikscheiße, dachte Jerry voll bitteren Zorns. Er sagte nichts; er schrubbte sich nur weiter ab. Dieser Bastard war es gar nicht wert, daß man ihm eine Antwort gab … Er kümmerte sich nicht mehr um Charles Freck, sondern nur noch um sich selbst. Kümmerte sich nur noch um seine eigenen lebenswichtigen, schrecklichen, dringenden Bedürfnisse, die ihn mit Haut und Haaren in Anspruch nahmen. Alles andere mußte eben warten. Er hatte keine Zeit, keine Zeit; solche Dinge konnten ruhig aufgeschoben werden. Alles andere war zweitrangig. Mit Ausnahme des Hundes vielleicht; Jerry machte sich immer noch Gedanken über Max, den Hund.

*

Charles Freck rief einen Typ an, von dem er hoffte, daß er einen Posten Stoff im Angebot hatte. »Kannste mir auf die schnelle zehn Ts rüberschieben?«

»Himmel, ich sitze doch selbst auf dem trockenen – ich versuch’ gerade, was ranzuschaffen. Sag mir Bescheid, wenn du welche auftreibst, ich könnte dringend ‘n bißchen Tod gebrauchen.«

»Was ist denn mit dem Nachschub los?«

»Schätze, die ham ‘n paar Lieferungen gekascht.«

Charles Freck hängte ein. Während er deprimiert aus der Telefonzelle trat – kein Doper wickelte einen telefonischen Deal über seinen eigenen Anschluß ab – und langsam zu seinem daneben abgestellten Chevy trottete, spulte er in seinem Kopf eine Phantasienummer ab. In dieser Phantasienummer fuhr er gerade an einer Discount-Drogerie vorbei, und die Discount-Macker hatten das ganze Schaufenster mit Langsamem Tod dekoriert: Langsamer Tod in Flaschen, Langsamer Tod in Dosen, Langsamer Tod in Gläsern und Badewannen und Bottichen und Schüsseln, Millionen von Kapseln und Tabletten und Fixen mit Langsamem Tod, Langsamer Tod gemixt mit Speed und Junk und Barbituraten und psychedelischen Drogen, eben alles, was das Herz erträumt. Und über der Auslage prangte ein gigantisches Schild: HIER HABEN SIE KREDIT. Und vom Rest des Textes ganz zu schweigen: NIEDRIGE NIEDRIGE PREISE, DIE NIEDRIGSTEN IN DER GANZEN STADT!

Aber in Wirklichkeit hatte die Discount-Drogerie für gewöhnlich nur nutzloses Zeug in der Auslage: Kämme, Flaschen mit ätherischen Ölen, Sprühdosen mit Deodorants, immer den gleichen Schund. Aber ich möchte darauf wetten, daß diese Macker in den Hinterzimmern ihrer Läden Langsamen Tod unter Verschluß halten, ungepanschten, reinen, unverfälschten, unverschnittenen Langsamen Tod, dachte Charles Freck, während er aus der Parklücke setzte und sich in den Nachmittagsverkehr auf dem Harbor Boulevard einfädelte. Mindestens ein Päckchen mit zwanzig Kilo drin.

Er hätte für sein Leben gerne gewußt, wann und wie sie jeden Morgen das Zwanzig-Kilo-Päckchen mit Substanz T bei der Discount-Drogerie ausluden und woher der Stoff eigentlich kam – aus der Schweiz vielleicht oder von einem fernen Planeten, auf dem eine weise Rasse lebte. Vielleicht wußte das auch nur der liebe Gott. Vielleicht lieferten sie den Stoff in aller Herrgottsfrühe aus, unter dem Schutz bewaffneter Wächter – unter dem Feuerschutz Des Mannes, der da mit einem Lasergewehr rumlungert und so finster und drohend dreinschaut, wie es Der Mann immer tut. Wenn irgendwer mir meinen Langsamen Tod abklaut, dachte Charles Freck, wobei er sich in den Kopf Des Mannes versetzte, dann werde ich ihn auslöschen.

Vielleicht ist Substanz T ein fester Bestandteil aller Arzneimittel, die irgendwas taugen, dachte er. Eine kleine Prise hier und da, gemäß der geheimen, exklusiven Formel, die von den Herstellern, die Substanz T entwickelt haben, in einem Tresor in ihrem Stammhaus in Deutschland oder in der Schweiz wie ein Staatsgeheimnis gehütet wird. Aber in Wirklichkeit wußte Charles Freck es besser; die Behörden vernichteten alle (oder sperrten sie zumindestens ein), die Substanz T verkauften oder transportierten oder konsumierten. Folglich würde auch die Discount-Drogerie – ja, die Millionen und Abermillionen von Discount-Drogerien! – auf der Flucht erschossen oder unsanft aus dem Geschäft gedrängt oder wenigstens eingesperrt werden. Vermutlich doch nur eingesperrt. Discount war eine einflußreiche Ladenkette. Und überhaupt, wie erschießt man eigentlich eine Kette großer Drogerien? Oder wie sperrt man sie in den Knast?