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»Nein«, sagte er. Mit Nachdruck.

»Hast du überhaupt irgendwelche Schäden?« Sie tippte sich an den Kopf.

»Nein, es ist nur … verstehst du das denn nicht? Ich habe immer Schwierigkeiten dabei, wenn ich über diese Scheiß-Kliniken spreche; ich hasse diese Kliniken für neurale Aphasie. Einmal war ich in einer, um so einen Typ zu besuchen. Weißt du, der hat die ganze Zeit versucht, den Fußboden zu bohnern – die Pfleger sagten, er würd’s nie schaffen, ich meine, er konnt’s einfach nicht mehr auf die Reihe kriegen, wie man’s machen muß … Was mich so unheimlich geschockt hat, war, daß er’s immer weiter versucht hat. Ich meine, nicht nur so ‘ne Stunde lang oder so; er hat’s immer noch versucht, als ich einen Monat später wieder hingefahren bin. So, als ob er’s immer wieder versucht hätte, wieder und wieder, wie da, wo ich ihn zuerst gesehen hab’, bei meinem ersten Besuch. Er konnte einfach nicht kapieren, warum er’s nicht auf die Reihe bekam. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war sich so sicher, daß er’s richtig hinkriegen würde, wenn er nur endlich rausbekommen würde, was er eigentlich falsch machte. ›Was mache ich denn bloß falsch?‹ fragte er die Pfleger immer wieder. Und es gab keinen Weg, es ihm begreiflich zu machen. Ich meine, sie haben’s ihm erklärt – verdammt noch mal, sie haben’s ihm erklärt –, aber er konnte es trotzdem immer noch nicht auf die Reihe kriegen.«

»Ich hab’ gelesen, daß die Wahrnehmungszentren im Gehirn meist zuerst den Bach runtergehen«, sagte Donna gelassen. »Wenn sich zum Beispiel einer ‘nen miesen Schuß gesetzt hat. ‘ne zu große Dosis oder so.« Sie musterte den Wagen, der direkt vor ihnen fuhr. »Sieh mal, da ist einer von diesen neuen Porsches mit den zwei Motoren.« Sie zeigte aufgeregt nach vorn. »Wow!«

»Ich kannte mal einen Typ, der sich einen dieser neuen Porsches frisiert hatte«, sagte Charles Freck, »und dann damit auf den Riverside Freeway rausfuhr und ihn auf 280 hochjagte – Filmriß.« Er gestikulierte wild mit den Händen. »Geradewegs in den Arsch von einem Sattelschlepper. Hat ihn gar nicht gesehen, nehme ich an.« In seinem Kopf ließ er eine Phantasienummer abspulen: er, Charles Freck, hinter dem Steuer eines Porsche, aber er bemerkte den Sattelschlepper rechtzeitig – alle Sattelschlepper. Und jedermann auf dem Freeway – dem Hollywood Freeway zur Hauptverkehrszeit – bemerkte ihn, Charles Freck. Schließlich konnte man diesen schlaksigen, breitschultrigen, gutaussehenden Macker, der da mit 320 Stundenkilometern über den Freeway brauste, auch gar nicht übersehen. Und den Bullen hing der Unterkiefer bis runter auf die Schuhe.

»Du zitterst ja«, sagte Donna. Sie beugte sich zu ihm herüber und legte ihre Hand auf seinen Arm. Eine ruhige Hand, auf die er sofort ansprach. »Langsamer.«

»Ich bin müde«, sagte er. »Ich war zwei Tage und zwei Nächte auf den Beinen und habe Wanzen gezählt. Hab’ Wanzen gezählt und sie in Flaschen getan, bis ich vor Müdigkeit aus den Latschen gekippt bin. Und als wir dann am nächsten Morgen aufgestanden sind und uns fertiggemacht haben, um die Flaschen in den Wagen zu laden und sie zum Doktor zu bringen, weil wir ihm die Wanzen zeigen wollten, da war nichts in den Flaschen drin. Leer.« Er konnte das Zittern jetzt selber spüren, konnte es in seinen Händen spüren, die auf dem Lenkrad ruhten, konnte die zitternden Hände auf dem Lenkrad sehen, bei dreißig Stundenkilometern. »Alle«, sagte er. »Die ganzen Scheiß-Flaschen. Nichts drin. Keine Wanzen. Und dann hab’ ich’s endlich begriffen. Scheiße noch mal, ich hab’ begriffen, was mit seinem Gehirn los war. Mit Jerrys Gehirn.«

Die Luft roch nicht mehr länger nach Frühling, und übergangslos begriff Charles Freck, daß er dringend einen neuen Hit Substanz T brauchte, weil es vielleicht schon später am Tag war, als er bisher bemerkt hatte. Oder war die letzte Dosis, die er eingepfiffen hatte, geringer gewesen, als er dachte? Nun, zum Glück hatte er immer einen Notvorrat dabei, ganz hinten im Handschuhfach. Er spähte aus dem Fenster und hielt Ausschau nach einer freien Parkbucht, wo er anhalten konnte.

»Manchmal macht einem das Gehirn was vor«, sagte Donna wie aus großer Entfernung; sie schien sich in sich selbst zurückgezogen zu haben, schien sehr weit weggegangen zu sein. Charles Freck fragte sich, ob ihr seine ziellose Fahrerei wohl auf die Nerven ging. Vielleicht lag es daran.

Ein weiterer Phantasie-Film spulte sich plötzlich in seinem Kopf ab, ganz ohne seine Zustimmung: Zuerst sah er einen großen Pontiac, aufgebockt auf einem plötzlich kippelnden Wagenheber, und ein Jüngelchen von vielleicht dreizehn Jahren mit langen, strohigen Haaren, das sich verzweifelt gegen den wegrollenden Wagen zu stemmen versuchte und dabei zugleich gellend um Hilfe schrie. Er sah sich selbst zusammen mit Jerry Fabin aus dem Haus – Jerrys Haus – stürzen und die mit Bierdosen übersäte Auffahrt hinunterstürmen. Er, Charles Freck, griff nach der Wagentür auf der Fahrerseite, um sie aufzuwuchten, damit er das Bremspedal treten konnte. Aber Jerry Fabin, der nur eine Hose trug und nicht einmal Schuhe anhatte – er hatte gerade geschlafen, und sein Haar war wirr und zerwühlt –, dieser Jerry Fabin also rannte am Wagen entlang zum Fahrzeugheck und drängte den Jungen mit seiner bloßen, bleichen Schulter, die nie das Licht des Tages sah, in letzter Sekunde vom Wagen weg. Der Wagenheber rutschte endgültig ab und fiel um, das Heck des Wagens krachte runter, die Felge und das Rad rollten davon – aber dem Jungen war nichts passiert.

»Zu spät für die Bremse«, keuchte Jerry und versuchte, sich seine häßlichen, schmierigen Haare aus den Augen zu streichen. Er blinzelte. »Zu knapp.«

»Is’ er okay?« rief Charles Freck. Sein Herz hämmerte immer noch.

»Ja.« Jerry stand schwer atmend neben dem Jungen. »Scheiße!« schrie er ihn an, um sich Luft zu machen. »Hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst warten, bis wir’s zusammen machen? Und wenn ein Wagenheber wegrutscht – Scheiße, Mann, du kannst doch keine fünftausend Pfund zurückhalten!« Sein Gesicht zuckte. Der Junge, der von allen nur Rattenarsch genannt wurde, blickte ihn wie ein Häufchen Elend an und wand sich schuldbewußt. »Mensch, ich hab’s dir doch wieder und wieder gesagt!«

»Ich wollte die Bremse treten«, erklärte Charles Freck, der plötzlich begriff, wie idiotisch er sich verhalten hatte, begriff, daß er einen Fehler gemacht hatte, der genauso schwerwiegend und tödlich gewesen war wie der des Jungen. Er, ein erwachsener Mann, hatte versagt, weil er unfähig gewesen war, richtig zu reagieren. Aber genau wie der Junge suchte er nun nach Worten, um sein Versagen zu rechtfertigen. »Klar, ich seh’ jetzt ein –«, setzte er kläglich an, und dann brach die Phantasie-Nummer ab; eigentlich war sie nur eine exakte Widergabe realer Ereignisse gewesen, denn Charles Freck erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sich dieser Zwischenfall abgespielt hatte, damals, als sie noch alle zusammenlebten. Jerrys guter Instinkt … ohne den hätte Rattenarsch eine Sekunde später unter dem Heck des Pontiac gelegen, mit zerschmettertem Rückgrat! Alle drei trotteten in düsterer Stimmung zum Haus zurück, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die Felge und den Reifen einzufangen, die immer noch die Straße hinunterrollten.

»Ich war eingeschlafen«, murmelte Jerry, als sie das abgedunkelte Innere des Hauses betraten. »Zum ersten Mal seit Wochen haben mich die Wanzen lange genug in Ruhe gelassen, daß ich’s geschafft hab’. Ich hab’ seit fünf Tagen keinen Schlaf mehr gekriegt – bin immer nur rumgelaufen und rumgelaufen. Ich hab’ schon gedacht, sie wären vielleicht weg; und sie sind weggegangen, wirklich. Ich hab’ gedacht, sie härten endlich aufgegeben und wären woandershin gegangen, nach nebenan vielleicht, ganz aus dem Haus weg. Jetzt kann ich sie wieder spüren. Der zehnte Anti-Wanzen-Strip, den die mir verkauft haben – oder vielleicht war’s der elfte – die haben mich wieder reingelegt, wie sie’s mit allen anderen gemacht haben.« Aber seine Stimme klang jetzt gedämpft, nicht wütend, sondern nur leise und irgendwie verwundert. Er legte seine Hand auf Rattenarschs Kopf und versetzte ihm einen kurzen, scharfen Schlag. »Du blöder Kerl – wenn ein Wagenheber wegrutscht, dann nimm gefälligst die Beine in die Hand. Vergiß den Wagen. Stell dich bloß nicht hinter ihn, und versuch ja nicht, dich einer solchen Masse entgegenzustemmen und sie mit deinem Körper aufzuhalten.«