Bob Arctor sagte: »Was war auf der anderen Seite?«
»Er sagte, es sei immer Nacht gewesen.«
»Nacht!«
»Da war Mondschein und Wasser, immer das gleiche Bild. Nichts bewegte oder veränderte sich. Schwarzes Wasser, wie Tinte, und ein Ufer, ein Inselstrand. Er war sich sicher, daß es Griechenland war, das Griechenland des Altertums. Er legte sich die Theorie zurecht, daß die Pforte eine schwache Stelle in der Zeit war und daß er zurück in die Vergangenheit sah. Und dann, später, als er sie nicht mehr sehen konnte, meine ich, ist er immer auf den Freeway hinausgefahren, mitten hinein in den dichtesten Lastwagenverkehr, und dabei jedesmal schier wahnsinnig geworden. Er sagte, er könne die ganze Bewegung und den Lärm nicht aushalten, dieses ganze verrückte Hin- und Hergeschiebe, all das Scheppern und Bumsen. Jedenfalls konnte er nie herausfinden, warum ihm das, was er gesehen hatte, gezeigt worden war. Er glaubte wirklich daran, daß es Gott gewesen und die Pforte zur nächsten Welt, aber unter dem Strich ist dabei doch nur herausgekommen, daß es ihn ganz wirr im Kopf gemacht hat. Er konnte es nicht festhalten, und darum konnte er nicht damit fertig werden. Jedesmal, wenn er irgendwen kennenlernte, erzählte er ihm todsicher nach einiger Zeit, er hätte alles verloren.«
Bob Arctor sagte: »So fühle ich mich auch.«
»Da war eine Frau auf der Insel. Keine richtige – mehr so ‘ne Art Statue. Er sagte, es sei eine Statue gewesen, die die Aphrodite von Kyrene darstellte. Und sie stand einfach nur da im Mondschein, bleich und kalt und ganz aus Marmor verfertigt.«
»Er hätte durch die Pforte gehen sollen, als er die Chance dazu hatte.«
Donna sagte: »Er hatte die Chance gar nicht. Es war ein Versprechen. Etwas, was später sein würde. Etwas Besseres, das ihn in ferner Zukunft erwartete. Vielleicht, nachdem er –« Sie hielt inne. »Wenn er starb.«
»Er hat sie verpaßt«, sagte Bob Arctor. »Man kriegt nur eine Chance, und damit hat sich’s.« Er schloß die Augen, als wolle er sich so vor der Qual und dem Schweiß schützen, der in Bächen über sein Gesicht rann. »Und überhaupt, was weiß denn so ein ausgebrannter Säurekopf schon? Was weiß überhaupt einer von uns? Ich kann nicht mehr reden. Vergiß es.« Er wandte sich von ihr ab, der Dunkelheit zu, zuckend und zitternd.
»Sie zeigen uns jetzt Vorschauen«, sagte Donna. »Wie im Kino.« Sie legte ihre Arme um ihn und preßte ihn so dicht an sich, wie sie es nur vermochte, wiegte ihn sanft vor und zurück. »Damit wir durchhalten.«
»Genau das versuchst du auch gerade zu tun. Für mich.«
»Du bist ein guter Mann. Dir ist verdammt übel mitgespielt worden. Aber das Leben ist für dich noch nicht vorüber. Du bedeutest mir sehr viel. Ich wünschte –« Sie ließ ihn nicht mehr los, hielt ihn schwiegend in den Armen, in der Dunkelheit, die ihn von innen heraus aufzehrte. Die ihn selbst jetzt, da sie ihn an sich drückte, ihr immer mehr entriß. »Du bist ein guter und freundlicher Mensch«, sagte sie. »Und es ist ungerecht so, aber es kann nicht anders sein. Versuche, das Ende abzuwarten. Irgendwann einmal, sehr weit vom Hier und Jetzt entfernt, wirst du den Weg wiedererkennen, den du früher schon gegangen bist. Es wird dir alles wieder einfallen.« Zurückgegeben werden, dachte sie. An dem Tage, da den Menschen alles, was ihnen ungerechterweise weggenommen worden ist, zurückgegeben wird. Es mag tausend Jahre dauern oder sogar noch länger, aber jener Tag wird kommen, und dann werden alle Konten ausgeglichen. Vielleicht hast du wie Tony Amsterdam eine Vision von Gott gesehen, die nur vorübergehend verschwunden ist; die dir entzogen wurde, dachte sie, aber nicht für alle Zeit erloschen ist. Und tief drinnen in den schrecklich verbrannten, den immer noch brennenden Schaltkreisen deines Kopfes, die mehr und mehr verschmoren, selbst jetzt, da ich dich halte, hat sich vielleicht unerkannt ein Funke aus Farbe und Licht gebildet, der sein wahres Wesen nicht preisgibt und der dich doch dank der darin beschlossenen Erinnerung durch die Jahre, die vor dir liegen, diese schrecklichen Jahren, leiten wird. Ein Wort, nicht einmal ganz verstanden, irgendein winziges Ereignis, das man zwar sieht, doch nicht begreift; ein Splitter eines Sterns, begraben unter dem Gerümpel dieser Welt, der dich durch Reflexe leiten soll, bis zu dem Tag … aber wie schwach glomm dieser Funke doch. Nicht einmal sie selbst vermochte ihn sich wirklich vorzustellen. Vermengt mit dem Gewöhnlichen, Alltäglichen, war Bob Arctor vielleicht etwas aus einer anderen Welt erschienen, für einen Augenblick nur.
Alles, was sie jetzt tun konnte, war, ihn in ihren Armen zu halten und zu hoffen.
Aber wenn er eines Tages wieder darauf stieß, dann würde – falls sie Glück hatten – das Muster von seinem Gehirn wiedererkannt werden. Die rechte Hemisphäre würde den korrekten Vergleich ziehen. Und das, auch wenn er jetzt nur noch auf einem subkortikalen Niveau zu denken in der Lage war. Und die Reise, diese für ihn so schreckliche Reise, die ihn so viel gekostet hatte, obwohl sie anscheinend doch völlig ohne Sinn war, würde endlich vorüber sein.
Ein Licht stach in ihre Augen. Vor ihr stand ein Bulle mit Gummiknüppel und Taschenlampe. »Würden Sie beide bitte aufstehen?« sagte der Beamte. »Und mir Ihre Ausweise zeigen? Sie zuerst, Miß.«
Sie löste sich von Bob Arctor, der zur Seite rutschte, bis er auf dem Boden lag; er bemerkte den Bullen gar nicht, der sich ihnen heimlich von einem Privatweg am Fuß des Hügels genähert hatte. Während Donna ihr Ausweismäppchen aus der Geldtasche holte, winkte sie zugleich den Beamten beiseite, dahin, wo Bob Arctor nicht mithören konnte. Mehrere Minuten lang studierte der Beamte beim gedämpften Licht seiner Taschenlampe ihre Ausweise, und dann sagte er:
»Sie sind ein Geheimagent der Bundespolizei.«
»Sprechen Sie leise«, sagte Donna.
»Tut mir leid.« Der Beamte gab ihr die Ausweismappe zurück.
»Hauen Sie endlich ab, verdammt noch mal«, sagte Donna.
Der Beamte leuchtete ihr kurz mit der Taschenlampe ins Gesicht und wandte sich dann ab; er verschwand so geräuschlos, wie er auch gekommen war.
Als sie zu Bob Arctor zurückkehrte, wurde ihr sofort klar, daß er den Bullen überhaupt nicht bewußt wahrgenommen hatte. Er nahm jetzt nahezu nichts mehr bewußt wahr. Nicht einmal sie, geschweige denn irgend jemanden oder irgend etwas anderes.
Weit weg konnte Donna den Polizeiwagen hören, der wie ein verklingendes Echo den ausgefahrenen, von hier aus nicht einsehbaren Privatweg hinunterrollte. Ein paar Wanzen, vielleicht eine Eidechse, raschelten durch das trockene Gras um sie herum. In der Ferne schimmerte das Lichterband des Freeway 91, aber kein Geräusch erreichte sie; der Abstand war zu groß.
»Bob«, sagte sie sanft. »Kannst du mich hören?«
Keine Antwort.
Alle Schaltkreise sind zusammengeschmolzen, dachte sie. Geschmolzen und verschmolzen. Und keiner wird sie wieder öffnen können, egal, wie sehr sie es versuchen mögen. Und sie werden es versuchen.
»Los, komm«, sagte sie und versuchte, ihn auf die Füße zu zerren. »Wir müssen endlich losspritzen.«
Bob Arctor sagte: »Ich kann keine Liebe machen. Mein Ding ist weg.«
»Sie erwarten uns schon«, sagte Donna bestimmt. »Ich hab’ die Verantwortung dafür übernommen, daß du ankommst.«
»Aber was soll ich bloß machen, wenn mein Ding weg ist? Werden sie mich trotzdem aufnehmen?«
Donna sagte: »Sie werden dich nehmen.«
Es bedarf der größten Weisheit, die es nur geben mag, dachte sie, um zu erkennen, wann man Ungerechtigkeit walten lassen darf. Wie kann die Gerechtigkeit jemals dem zum Opfer fallen, was richtig ist? Wie kann so etwas passieren? Sie dachte: Weil auf dieser Welt ein Fluch liegt, und all das hier beweist es; das hier ist der endgültige Beweis, gerade das hier. Irgendwo, auf dem tiefsten möglichen Level, ist der Mechanismus, die Konstruktion der Dinge, auseinandergefallen, und aus dem, was übriggeblieben ist, hat sich das Bedürfnis gelöst, alle die verschiedenen Arten von vagem, verschwommenem Bösen zu tun, zu dem der weiseste Ratschluß uns befähigt hat, und ist an die Oberfläche getrieben. Es muß vor Tausenden von Jahren begonnen haben. Und jetzt hat es sich in das Wesen von allem eingeschlichen. Und, dachte sie, in jeden einzelnen von uns. Wir können uns nicht umwenden oder unseren Mund öffnen und sprechen, ja nicht einmal eine einzige Entscheidung treffen, ohne das Böse zu tun. Es interessiert mich nicht, wie es angefangen hat, wann oder warum. Sie dachte: Ich hoffe nur, daß es einmal enden wird. Wie bei Tony Amsterdam; ich hoffe einfach nur, daß eines Tages der Sprühregen aus helleuchtenden Funken zurückkehren wird und wir ihn diesmal alle sehen werden. Die schmale Pforte, hinter der es Frieden gibt. Eine Statue, das Meer, und das, was wie Mondschein aussieht. Und nichts, was sich bewegt, nichts, was die Ruhe stören könnte.