»›Sir‹«, sagte Mike. »Ich selbst hab’ zehn Jahre im Knast gesessen. Einmal hab’ ich miterlebt, wie sich in unserem Zellentrakt acht Typen an einem Tag die Kehle durchgeschnitten haben. Wir mußten mit den Füßen in der Toilette schlafen, so klein waren unsere Zellen. Genau das ist es, was ein Gefängnis ausmacht: Du schläfst mit deinen Füßen in der Toilette. Du bist nie im Knast gewesen, oder?«
»Nein«, sagte er.
»Aber andererseits hab’ ich Gefangene gesehen, die achtzig Jahre alt waren und froh darüber, zu leben und die auch am Leben bleiben wollten. Ich erinnere mich noch genau an die Zeit, als ich auf Dope war und schoß; ich hab’ zu schießen angefangen, als ich noch ein Teenager war. Sonst hab’ ich mir nie was zuschulden kommen lassen. Ich hab’ mich nur vollgeschossen und bin dann für zehn Jahre in den Bau gewandert. Ich hab’ so viel geschossen – Heroin und T durcheinander –, daß ich gar nicht mehr fähig war, was anderes anzustellen; ich hab’ außer dem Stoff gar nichts anderes mehr wahrgenommen. Jetzt bin ich davon runter und aus dem Knast raus und lebe hier. Weißt du, was mir am meisten auffällt? Weißt du, was der Unterschied ist, den ich bemerkt hab’? Jetzt kann ich die Straße entlanggehen und etwas sehen. Ich kann das Wasser hören, wenn wir in den Wald fahren – du wirst unsere anderen Einrichtungen später kennenlernen, die Farmen und das alles. Ich kann die Straße entlanggehen und die Hunde und Katzen sehen. Ich hab’ sie früher nicht mal bemerkt. Alles, was ich gesehen hab’, war der Stoff.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Und darum verstehe ich, wie du dich fühlst.«
»Es ist hart«, sagte Bruce, »von dem Zeug runterzukommen.«
»Jeder einzelne hier ist davon runtergekommen. Natürlich fangen einige hinterher wieder damit an. Wenn du von hier weggehen würdest, würdest du auch wieder damit anfangen. Du weißt das.«
Er nickte.
»Keiner von denen, die in diesem Heim sind, hat ein leichtes Leben gehabt. Ich will damit nicht sagen, daß dein Leben leicht gewesen ist. Eddie würde das vielleicht sagen. Er würde dir knallhart erklären, deine Probleme seien läppisch. Aber Probleme sind nie läppisch, bei keinem. Ich sehe, wie mies du dich fühlst, aber ich hab’ mich auch mal so gefühlt. Jetzt geht’s mir ‘ne ganze Menge besser. Wer ist dein Stubenkamerad?«
»John.«
»Ah ja, John. Dann bist du also unten im Erdgeschoß.«
»Mir gefällt es«, sagte er.
»Ja, es ist schön warm da. Du wirst wahrscheinlich sehr viel frieren. Die meisten von uns tun das, und ich erinnere mich noch gut dran, wie’s bei mir war; ich hab’ die ganze Zeit über vor Kälte gezittert, und die Hosen hab’ ich mir auch vollgeschissen. Aber glaub mir, du wirst das nicht noch einmal durchmachen müssen, wenn du hier im Neuen Pfad bleibst.«
»Für wie lange?« sagte er.
»Für den Rest deines Lebens.«
Bruce hob den Kopf.
»Ich kann hier jedenfalls nicht mehr raus«, sagte Mike. »Ich würde sofort wieder an der Nadel hängen, wenn ich wieder nach draußen ginge. Ich hab’ zu viele Kumpels draußen. Ich würd’ wieder in die Scene einsteigen, dealen und schießen, und dann zurück in den Knast wandern, aber diesmal für zwanzig Jahre. Weißt du – hey – ich bin jetzt 35 und heirate demnächst zum ersten Mal. Hast du Laura schon kennengelernt? Meine Verlobte?«
Er war sich nicht sicher.
»Ein hübsches Mädchen, ziemlich stämmig? Ganz hübsche Figur?«
Er nickte.
»Sie fürchtet sich davor, aus dem Heim zu gehen. Irgendwer muß sie immer begleiten. Wir gehen jetzt bald mal zusammen in den Zoo … wir nehmen den Kurzen vom Direktor nächste Woche mit in den Zoo von San Diego, und Laura hat jetzt schon ‘n höllischen Bammel. Mehr Bammel als ich.«
Schweigen.
»Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt hab’?« sagte Mike. »Daß ich Bammel hab’, in den Zoo zu gehen?«
»Ja.«
»Ich bin noch nie in einem Zoo gewesen, jedenfalls könnt’ ich mich nicht dran erinnern«, sagte Mike. »Was macht man eigentlich in so einem Zoo? Vielleicht weißt du’s?«
»Man schaut in verschiedene Käfige und Freigehege hinein.«
»Was für Tierarten gibt’s denn da so?«
»Alle möglichen.«
»Wilde Tiere, denk’ ich mir. Normalerweise wilde Tiere. Und exotische.«
»Im Zoo von San Diego haben sie fast alle wilden Tiere«, sagte Bruce.
»Die haben auch einen von diesen … wie heißen die doch gleich? Koalabären?«
»Ja.«
»Ich hab’ mal einen Werbespot im Fernsehen gesehen«, sagte Mike. »Da kam ein Koalabär drin vor. Die hüpfen. Irgendwie erinnern die mich an ein ausgestopftes Spielzeug.«
Bruce sagte: »Die Leute, die in den zwanziger Jahren den guten alten Teddybären erfunden haben – den, mit dem die Kinder spielen –, haben den Koalabären als Vorbild genommen.«
»Ach, wirklich? Ich hatte immer geglaubt, man müßte nach Australien fahren, um einen Koalabären zu sehen. Oder sind die da jetzt ausgestorben?«
»In Australien gibt’s sie in rauhen Mengen«, sagte Bruce, »aber die Ausfuhr ist verboten. Egal, ob von lebenden Tieren oder von Fellen. Sie wären früher mal fast ausgerottet worden.«
»Ich bin nie weit rumgekommen«, sagte Mike, »außer, wenn ich Stoff von Mexiko rauf nach Vancouver in Britisch Kolumbien transportiert hab’. Aber ich hab’ immer die gleiche Route genommen, und darum hab’ ich nie was gesehen. Ich bin einfach nur mit Vollgas durch die Gegend gedüst, um’s hinter mich zu bringen. Ich fahr’ jetzt übrigens einen Wagen von der Anstalt. Wenn du dich danach fühlst, ich meine, wenn du dich richtig mies fühlst, dann fahr’ ich dich rum. Ich werde fahren, und wir können dabei reden. Mir macht das nichts aus. Eddie und ein paar andere, die jetzt nicht mehr hier sind, haben das auch für mich getan. Mir macht’s echt nichts aus. «
»Danke.«
»Jetzt sollten wir uns aber alle beide in die Falle hauen. Haben sie dich schon für den Küchendienst am Morgen eingeteilt? Tische decken und auftragen?«
»Nein.«
»Dann kannst du ja genauso lange pennen wie ich. Wir sehen uns dann also beim Frühstück, okay? Du setzt dich zu mir an den Tisch, und ich mach’ dich mit Laura bekannt.«
»Wann wollt ihr heiraten?«
»In sechs Wochen. Wir würden uns freuen, wenn du kommen würdest. Natürlich wird die Trauung hier im Gebäude sein, und darum werden sowieso alle dran teilnehmen.«
»Danke«, sagte er.
*
Er saß im Spiel, und sie schrien auf ihn ein. Gesichter überall, schreiende Gesichter; er senkte den Blick und starrte zu Boden.
»Wißt ihr, was er ist? Ein Kußmäulchen!« Der Klang dieser Stimme, die noch schriller war als die anderen, ließ ihn aufblicken. Inmitten der entsetzlich schreienden Fratzen ein chinesisches Mädchen, das wie ein Dämon kreischte. »Du bist ein Kußmäulchen, genau das bist du!«
»Kannst du dir einen runterholen? Kannst du dir einen runterholen?« sangen die anderen in endloser Wiederholung auf ihn ein; der Kreis, den sie auf dem Fußboden bildeten, schloß sich immer enger um ihn.
Der Direktor des Zentrums, jetzt in roten Pluderhosen und rosa Pantoffeln, lächelte. Winzige, gesplitterte Glitzeraugen, wie die eines Gespenstes. Sich vor und zurück wiegend, die Beine unter sich zusammengelegt, ohne Sitzkissen.
»Los, wir wollen endlich sehen, wie du dir einen runterholst!«
Der Direktor schien es zu genießen, wenn seine Augen sahen, wie etwas zerbrach; seine Augen glänzten vor freudiger Erregung. Wie ein tuntiger alter Schmierenkomödiant, der im Kreise seiner Verehrer hofhält, eingehüllt in den Mantel seines Charismas, paradiesvogelbunt, spähte er umher und genoß. Und dann, von Zeit zu Zeit, trillerte seine Stimme heraus, schabend und monoton, wie Metall auf Metall. Eine knarrende Türangel.