»Das Kußmäulchen!« heulte ihm das chinesische Mädchen entgegen; neben ihr flatterte ein Mädchen wie ein Vogel mit den Armen und blies ihre Backen auf, plop-plop. »Hier!« heulte das chinesische Mädchen und drehte sich herum, um ihm ihr Hinterteil entgegenzustrecken, auf das sie dann mit dem Finger zeigte, während sie ihn zugleich anheulte: »Dann küß mir doch den Arsch, Kußmäulchen! Er möchte andere Leute küssen! Küß doch das hier, Kußmäulchen!«
»Wir wollen endlich sehen, wie du dir einen runterholst!« psalmodierte die Familie. »Hol dir einen runter, Kußmäulchen!«
Er schloß die Augen, aber seine Ohren hörten immer noch.
»Du Tunte«, sagte der Direktor langsam zu ihm. Monoton. »Du dämliches Stück Scheiße. Du Pimmel. Du Dreck. Du Arschwichser. Du –« Weiter und weiter.
Seine Ohren nahmen immer noch Geräusche auf, aber die Töne vermischten sich jetzt alle miteinander. Er schaute nur einmal kurz auf, als er Mikes Stimme erkannte, die sich über die anderen Stimmen erhob, als der Lärm für einen Moment ein wenig abebbte. Mike saß da und starrte ihn teilnahmslos an; sein Gesicht war ein bißchen gerötet und die Haut seines Nackens wund und geschwollen von dem zu engen Kragen seines Hemdes.
»Bruce«, sagte Mike. »Was ist mit dir los? Was hat dich hierhergebracht? Was möchtest du uns erzählen? Kannst du uns überhaupt irgendwas über dich erzählen?«
»Tunte!« kreischte George, auf und ab hüpfend wie ein Gummiball. »Was warst du, du Tunte?«
Das chinesische Mädchen sprang auf, schrill kreischend: »Erzähl’s uns, du Schwanzlutscher! Wichsjunge! Arschficker! Scheißhaufen! Pisser!«
Er sagte: »Ich bin wie ein Auge.«
»Du Arschwichser«, sagte der Direktor. »Du Schwächling. Du Gewichs. Du Wichselecker. Du Fotze.«
Er hörte jetzt nichts mehr. Und vergaß die Bedeutung der Worte und schließlich auch die Worte selbst.
Das einzige, was er noch spürte, war Mike; Mike, der ihn ansah, ihn ansah und lauschte, aber nichts hörte. Er wußte nichts, er erinnerte sich an nichts, er fühlte kaum noch etwas, er fühlte sich schlecht, er wollte weg.
Die Leere in ihm breitete sich immer weiter aus. Und er war sogar ein bißchen froh darüber.
*
Später am Tag.
»Schau mal hier hinein«, sagte eine Frau. »Hier bringen wir die Freaks unter. «
Er spürte eine unbestimmte Angst, als er die Tür öffnete. Die Tür schwang beiseite, und aus dem Raum ergoß sich ein Lärm, dessen Ausmaß ihn überraschte; aber er sah viele kleine Kinder, die spielten.
An jenem Abend beobachtete er zwei ältere Männer, die in einer abgeteilten kleinen Nische nahe der Küche saßen und die Kinder mit Milch und Babynahrung fütterten. Rick, der Koch, gab zuerst den beiden ältlichen Männern das Essen für die Kinder, während alle anderen im Speisesaal warteten.
Ein chinesisches Mädchen, das Teller in den Speisesaal trug, lächelte ihn an und sagte: »Du magst Kinder?«
»Ja«, sagte er.
»Du kannst dich zu den Kindern setzen und da mit ihnen essen.«
»Oh«, sagte er.
»Du kannst sie später auch mal füttern, so in ein oder zwei Monaten.« Sie zögerte. »Wenn wir sicher sein können, daß du sie nicht schlägst. Wir haben hier eine Regeclass="underline" Die Kinder dürfen nie für etwas, das sie tun, geschlagen werden.«
»Okay«, sagte er. Ihm wurde warm ums Herz, und er fühlte sich plötzlich wieder lebendig, als er die Kinder essen sah; er setzte sich, und eines der ganz kleinen Kinder krabbelte ihm auf den Schoß. Er begann, das Kind mit einem Löffel zu füttern. Das Kind und er selbst, dachte er, fühlten sich nun gleichermaßen geborgen. Das chinesische Mädchen lächelte ihm zu und ging dann mit den Tellern weiter in den Speisesaal.
Eine lange Zeit über saß er mitten zwischen den Kindern und hielt erst eines, dann ein anderes. Die beiden ältlichen Männer stritten mit den Kindern und kritisierten gegenseitig ihre Füttermethoden. Der Tisch und der Fußboden waren über und über mit größeren und kleineren Essensbrocken und Schmierflecken bedeckt; erschrocken stellte er fest, daß schon alle Kinder gefüttert worden waren und nun in das große Spielzimmer strömten, um sich Zeichentrickfilme im Fernsehen anzuschauen. Linkisch beugte er sich vor, um das verschüttete Essen aufzuwischen.
»Nein, das ist nicht deine Aufgabe!« sagte einer der ältlichen Männer scharf. »Das soll ich machen.«
»Okay«, stimmte er zu. Als er sich wieder erhob, stieß er sich den Kopf an der Tischkante. Seine Hände waren von Essen verschmiert, und er starrte sie nachdenklich an.
»Geh und hilf dabei, den Speisesaal sauberzumachen!« sagte der andere Mann zu ihm. Er hatte einen leichten Sprachfehler.
Einer von den Küchenhelfern sagte im Vorübergehen zu ihm: »Du brauchst eine Erlaubnis, um bei den Kindern sitzen zu dürfen.«
Verwirrt stand er da und nickte.
»Das ist was für die Alten«, sagte der Küchenhelfer. »Babysitten.« Er lachte. »Für die, die nichts anderes mehr können.« Er ging weiter.
Ein Kind – ein kleines Mädchen – war in der Nische zurückgeblieben. Es musterte ihn mit großen Augen und sagte zu ihm: »Wie heißt’n du?«
Er antwortete nicht.
»Ich hab’ dich gefragt, wie du’n heißt?«
Zögernd berührte er ein Stück Rindfleisch, das auf dem Tisch lag. Es war jetzt kalt. Aber er selbst fühlte sich immer noch warm, weil er sich der Gegenwart des Kindes an seiner Seite bewußt war; er berührte ihren Kopf, aber nur kurz.
»Mein Name ist Thelma«, sagte das Kind. »Hast du deinen Namen vergessen?« Sie tätschelte ihn. »Wenn du deinen Namen öfters vergißt, kannst du ihn dir doch auf die Hand schreiben. Soll ich dir zeigen, wie?« Sie tätschelte ihn wieder.
»Wird er denn nicht abgegeben?« fragte er sie. »Wenn ich ihn mir auf die Hand schreibe und dann irgendwas tue oder ein Bad nehme, wird er doch sofort wieder abgewaschen.«
»Oh, verstehe.« Sie nickte. »Tja, du könntest ihn auch an die Wand schreiben, über deinen Kopf. In dem Zimmer, wo du drin schläfst. Am besten ganz weit oben, damit er nicht weggewischt werden kann. Und wenn du dann wissen willst, wie du heißt, mußt du nur –«
»Thelma«, murmelte er.
»Nein, das ist doch mein Name. Du heißt bestimmt anders. Und außerdem ist’s ein Mädchenname.«
»Hm, mal überlegen«, sagte er und dachte angestrengt nach.
»Das nächste Mal, wenn wir uns treffen, werde ich dir einen Namen geben«, sagte Thelma. »Ich denk’ mir einen für dich aus. Wie wär’s den mit ›Kay‹?«
»Du wohnst doch auch hier, oder?« sagte er.
»Ja, aber meine Mami dürfte jetzt eigentlich von hier weg. Sie ist noch am Überlegen, ob sie von hier weggeht und uns mitnimmt, mich und meinen Bruder.«
Er nickte. Etwas von der Wärme, die ihn bisher erfüllt hatte, war von ihm gewichen.
Urplötzlich, ohne erkennbaren Grund, rannte das Kind fort.
Ich sollte mir selbst einen Namen ausdenken, entschied er; eigentlich ist das doch meine eigene Aufgabe. Er betrachtete eingehend seine Hand und fragte sich, warum er das tat; da war nichts Besonderes zu sehen. Bruce, dachte er; das ist mein Name. Aber es müßte noch einen anderen, besseren Namen geben als den, dachte er. Die Wärme, die ihm noch geblieben war, verschwand nach und nach, ganz so wie das Kind.
Er fühlte sich wieder allein und sehr weit weg von sich selbst und verloren. Und nicht sehr glücklich.
*
Eines Tages konnte Mike Westaway es so hindrehen, daß er losgeschickt wurde, um eine Fuhre halb verrotteten Gemüses abzuholen, die ein ortsansässiger Supermarkt dem Neuen Pfad gespendet hatte. Nachdem er sich jedoch vergewissert hatte, daß ihm niemand vom Personal folgte, tätigte er einen Telefonanruf und traf dann in einem McDonald’s-Schnellimbiß Donna Hawthorne.