Einmal im Monat wählte das Amt für Drogenmißbrauch des Orange County nach Zufallskriterien einen Geheimen Rauschgift-Agenten aus und beauftragten ihn damit, vor einer Versammlung von Hohlköpfen wie diesen hier zu sprechen. Heute war er, Fred, an der Reihe. Als er nun den Blick über seine Zuhörer schweifen ließ, begriff er, wie sehr er Spießer verabscheute. Sie fanden immer alles toll. Sie lächelten. Sie unterhielten sich großartig.
Vielleicht hatte der Miniaturcomputer seines Jedermann-Anzugs in diesem Augenblick aus der unendlich großen Zahl von gespeicherten Komponenten S. A. Powers zusammengesetzt und auf die Oberfläche der Membrane projiziert.
»Aber Spaß beiseite«, sagte der Versammlungsleiter, »dieser Mann hier …« Er hielt inne und versuchte krampfhaft, die richtigen Worte zu finden.
»Fred«, sagte Bob Arctor. »S. A. Fred.«
»Ja, richtig, Fred.« Der Versammlungsleiter gewann seine bisherige Sicherheit wieder zurück und nahm den Faden wieder auf, während er zugleich seine Zuhörerschaft anstrahlte.
»Wie Sie selbst hören können, ähnelt Freds Stimme einer jener Computerstimmen, die ertönt, wenn Sie drüben in San Diego am Schalter einer Bank vorfahren – sie ist vollkommen tonlos und so künstlich wie die eines Roboters. Mit dieser Stimme, die im Geist eines Zuhörers keinerlei bleibende Eindrücke hinterläßt, spricht Fred auch, wenn er seinen Vorgesetzten im Amt für Drogenmißbrauch Bericht erstattet.« Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein. »Sie müssen wissen, daß jeder Geheime Rauschgift-Agent durch seinen Einsatz ein gräßliches Risiko eingeht. Es ist wohl kein Geheimnis mehr, daß es den Kräften, die hinter dem Drogenhandel stehen, wahrscheinlich überall in unserem Land gelungen ist, die für die Bekämpfung des Drogenmißbrauchs zuständigen Behörden mit erschreckendem Geschick auf allen Ebenen zu infiltrieren. Nach Meinung der am besten informierten Experten dürfte an dieser Tatsache kein Zweifel mehr bestehen. Und eben darum ist der Jedermann-Anzug eine notwendige Schutzmaßnahme, damit das Leben dieser wagemutigen und ihrer Sache treu ergebenen Männer nicht in Gefahr gerät.«
Schwacher Applaus für den Jedermann-Anzug. Und dann erwartungsvolle Blicke, die sich auf Fred richten, der im Innern seiner Membrane lauert.
»Wenn Fred jedoch vor Ort, in der Drogenszene also, arbeitet«, fügte der Versammlungsleiter abschließend noch hinzu, als er sich vom Mikrophon entfernte, um Platz für Fred zu machen, »trägt er diesen Anzug natürlich nicht. Er kleidet sich dann wie Sie oder ich, obwohl er selbstverständlich zumeist die Hippie-Tracht anlegt, die in den verschiedenen subkulturellen Gruppen üblich ist, in denen sich ein Geheimer Rauschgift-Agent im Zuge seiner Ermittlungen bewegt.«
Er gab Fred ein Zeichen, sich zu erheben und vor das Mikrophon zu treten. Fred – Robert Arctor – hatte sich schon sechsmal zuvor dieser Prozedur unterzogen, und er wußte, was er sagen mußte und was anschließend auf ihn zukam: nämlich die ewig gleichen Arschloch-Fragen und das übliche Maß an dumpfer Beschränktheit. Es machte ihn wütend, daß er gezwungen war, hier seine Zeit zu verschwenden. Alles verlorene Liebesmüh … und das Gefühl der Nutzlosigkeit, das er empfand, wurde mit jedem Mal stärker.
»Wenn ich Ihnen auf der Straße begegnen würde«, sagte Fred ins Mikrophon, nachdem der Beifall verklungen war, »würden Sie wahrscheinlich sagen: ›Schon wieder so ein ausgeflippter Rauschgift-Freak.‹ Und Sie würden Ekel empfinden und sich von mir abwenden.«
Schweigen.
»Ich sehe nicht so aus wie Sie«, sagte er. »Ich kann mir das nicht leisten. Mein Leben hängt davon ab.« In Wirklichkeit unterschied er sich in seinem Aussehen gar nicht so sehr von ihnen. Und außerdem hätte er die Sachen, die er täglich trug, auch dann angezogen, wenn es sein Job und der Schutz seines Lebens nicht erforderlich gemacht hätten. Ihm gefiel die Kleidung, die er trug. Aber die Ansprache, die er hier abspulte, war praktisch von A bis Z von anderen Leuten geschrieben und ihm dann zum Auswendiglernen vorgelegt worden. Zwar konnte er in gewissen Grenzen improvisieren, aber letztlich mußte er sich doch an den Standardtext halten, den alle Rauschgift-Agenten verwendeten, die öffentliche Vorträge hielten. Diese Regelung war vor Jahren von einem diensteifrigen Abteilungschef eingeführt und später durch einen Erlaß zur Norm erhoben worden.
Er wartete, bis das Auditorium seine Worte verdaut hatte. »Ich möchte mein Referat nicht damit beginnen«, sagte er, »Ihnen eine Aufzählung dessen zu bieten, was ich in meiner Funktion als Geheimer Rauschgift-Agent zu tun versuche. Sie wissen ja bereits, daß ich damit befaßt bin, Dealer dingfest zu machen und besonders die Quellen aufzuspüren, aus denen die illegalen Drogen stammen, die diese Dealer auf den Straßen unserer Städte und in den Korridoren unserer Schulen hier in Orange County feilbieten. Statt dessen möchte ich Ihnen zuerst sagen« – hier legte er eine Kunstpause ein, wie man es ihm in den Public-Relations-Kursen auf der Polizeiakademie beigebracht hatte –, »wovor ich mich am meisten fürchte.«
Jetzt hatte er seine Zuhörer im Griff; sie schienen nur noch aus offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen zu bestehen.
»Was ich bei Tag und bei Nacht fürchte«, sagte er, »ist, daß unsere Kinder, Ihre Kinder und meine Kinder …« Wieder eine Kunstpause. »Ich habe zwei«, fuhr er fort. Dann, besonders ruhig und eindringlich: »Sie sind noch klein. Sehr klein.« Und dann ließ er seine Stimme anschwellen, betonte jedes Wort. »Aber das schützt sie nicht davor, süchtig gemacht zu werden, mit voller Absicht um des bloßen Profits willen süchtig gemacht zu werden, von jenen, die unsere Gesellschaft zerstören wollen.« Eine erneute Pause. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, fuhr er übergangslos fort, jetzt wieder ruhiger, »wissen wir noch nicht, wer diese Menschen – oder besser: diese Tiere! – sind, die sich unsere Kinder als Beute erkoren haben, so, als würden wir hier nicht in den Vereinigten Staaten leben, sondern in einem Dschungel irgendwo in einem fernen Land. Wir bemühen uns nach besten Kräften darum, die Identität jener Männer aufzudecken, die diese Gifte, die täglich von mehreren Millionen von Männern und Frauen eingenommen, geschossen und geraucht werden, aus gehirnzerstörendem Dreck zusammenbrauen. Sicherlich ist das eine langwierige Aufgabe, aber am Ende werden wir ihnen doch, so wahr uns Gott helfe, die Maske vom Gesicht reißen.«
Eine Stimme aus dem Auditorium: »Macht sie fertig!«
Eine weitere Stimme, ebenso enthusiastisch: »Schnappt euch die roten Schweine!«
Applaus, der in immer neuen Wogen heranrollte und gar nicht mehr zu enden schien.
Robert Arctor zögerte. Starrte sie an, starrte die Spießer mit ihren fetten Anzügen, ihren fetten Krawatten und ihren fetten Schuhen an und dachte: Substanz T kann ihre Gehirne nicht zerstören; sie haben keine.
»Los, Mann, sag’s uns, wie’s ist!« drang eine etwas weniger aufdringliche Stimme zu ihm herauf – die Stimme einer Frau. Arctor ließ seinen Blick suchend über die Zuhörer schweifen und machte schließlich die Sprecherin aus: eine mittelalterliche Dame, die nicht ganz so fett war und ihre Hände wie zum Gebet ängstlich gefaltet hatte.
»Jeder Tag«, sagte Fred (oder Robert Arctor?), »fordert diese Seuche ihren Tribut von uns. Täglich steigen die Profite – und wohin sie fließen, werden wir –« Er brach ab. Selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte, hätte er den Rest des Satzes nicht mehr aus den Tiefen seines Gehirns heraufbaggern können, obwohl er ihn doch wenigstens eine Million mal wiederholt hatte, sowohl auf der Akademie als auch während der vorangegangenen Vorträge.
In dem großen Raum war es jetzt totenstill.
»Nun«, sagte er, »irgendwie dreht sich’s eigentlich gar nicht um die Profite. Der Kernpunkt liegt woanders. Ich meine, von dem, was sich da vor Ihrer aller Augen abspielt.«
Verblüfft stellte er fest, daß die Zuhörer keinerlei Unterschied bemerkten, obwohl er doch vom vorbereiteten Text abgewichen war und jetzt völlig frei improvisierte und das sagte, was ihm gerade in den Sinn kam, ohne sich auf die Vorgaben der PR-Jungs drüben im Behördenzentrum des Orange County zu verlassen. Aber wieso sollten sie den Unterschied auch überhaupt entdecken? Was wußten sie denn von dem, was um sie herum vorging? Letztlich interessierte das alles sie doch gar nicht. Die Spießer, dachte er, die da unter dem Schutz bewaffneter Wächter in ihren riesigen, festungsgleichen Apartment-Komplexen leben, würden doch keine Sekunde zögern, das Feuer auf jeden Doper zu eröffnen, der mit einem leeren Kissenüberzug über der Schulter an ihren Mauern kratzt und versucht, ihr Piano und ihre elektrische Uhr und ihren Rasierapparat und ihr Stereogerät zu klauen – die sie ohnehin noch nicht abbezahlt haben –, damit er neuen Shit oder seinen nächsten Schuß kriegen kann. Denn wenn er den nicht kriegt, wird er möglicherweise sterben, einfach so, ka-wumm, weil er den Entzugsschock und die damit verbundenen Qualen nicht durchsteht. Aber was kümmert das einen, solange man in seiner privaten Festung sitzt und durch die Schießscharten nach draußen späht, die Mauern unter Starkstrom stehen und die Wächter genug Munition für ihre Kanonen haben?