Sie saßen zusammen draußen, und auf dem Holztisch zwischen ihnen standen Coke und Hamburger.
»Haben wir es wirklich geschafft, ihn einzuschleusen?« erkundigte sich Donna.
»Ja«, sagte Westaway. Aber bei sich dachte er: Der Typ ist so total ausgebrannt. Ich frage mich, ob uns das weiterbringt. Ich frage mich, ob wir damit wirklich einen entscheidenden Erfolg verbucht haben. Und doch mußte alles so ablaufen, wie es abgelaufen ist.
»Sie haben noch keinen Verdacht geschöpft?«
»Nein«, sagte Mike Westaway.
Donna sagte: »Sind Sie sich eigentlich sicher, daß sie das Zeug anbauen?«
»Nein. Aber das zählt nicht. Die da oben glauben es.« Die, die uns bezahlen, dachte er.
»Was bedeutet der Name?«
»Mors ontologica. Tod der Seele. Der Identität. Des innersten Wesens.«
»Wird er dazu fähig sein, zu handeln?«
Westaway betrachtete die Autos und die Menschen, die vorüberströmten, mit schwermütigem Blick, während er zugleich in seinem Essen herumstocherte.
»Wer kann das schon sagen?«
»Man kann es nie mit Sicherheit wissen, bis der entscheidende Augenblick da ist. Eine vage Erinnerung. Ein paar durchgeschmorte Gehirnzellen, die noch ein bißchen weiterflackern. Wie ein Reflex. Reagieren, nicht agieren. Wir können nur hoffen. Erinnern Sie sich, was Paulus in der Bibel sagt: Glaube, Hoffnung und Selbstaufgabe bis zum letzten Cent.« Er musterte eingehend das hübsche, dunkelhaarige Mädchen, das ihm gegenübersaß, und ihr intelligentes Gesicht verriet ihm, warum Bob Arctor – nein, dachte er; ich muß von ihm immer nur als Bruce denken. Andernfalls gebe ich zu, daß ich zuviel weiß: Dinge, die ich nicht wissen sollte, nicht wissen kann. Etwa, warum Bruce so viel von ihr hielt. Jedenfalls damals, als er noch fähig war, zu denken.
»Er ist sehr gründlich auf seine Aufgabe vorbereitet worden«, sagte Donna in einem, wie es ihm vorkam, ungewöhnlich hoffnungslosen Tonfall. Und gleichzeitig huschte ein Ausdruck von Trauer über ihr Gesicht und entstellte es. »Ein so hoher Preis«, sagte sie dann wie zu sich selbst und nippte an ihrer Coke.
Er dachte: Aber es gibt keinen anderen Weg. Anders kann man nicht hineinkommen. Ich kann nicht hineinkommen. Das ist jetzt endgültig sicher; ich muß nur daran denken, wie lange ich es versucht habe. Sie werden nur eine ausgebrannte Hülle wie Bruce hereinlassen. Jemanden, der harmlos ist. Er würde so sein müssen wie … ja, genau so, wie er jetzt ist. Sonst würden sie das Risiko nicht eingehen. Das ist ihr Grundsatz.
»Die Regierung verlangt schrecklich viel«, sagte Donna.
»Das Leben verlangt schrecklich viel.«
Sie hob ihren Blick und starrte ihn voller mühsam unterdrückter Wut an. »In diesem Fall doch wohl die Bundesregierung. Und sie verlangt es von Ihnen, von mir, von –« Sie unterbrach sich. »Von dem, was einmal mein Freund war.«
»Er ist immer noch Ihr Freund. «
Donna sagte heftig: »Ja, das, was von ihm übriggeblieben ist.«
Das, was von ihm übriggeblieben ist, dachte Mike Westaway, sucht immer noch nach dir. Auf seine Weise jedenfalls. Auch er fühlte sich niedergeschlagen. Aber der Tag war schön, die Menschen und die Autos ringsum ließen seine Stimmung wieder besser werden, und die Luft roch gut. Und endlich bestand wieder Aussicht auf Erfolg; das beflügelte ihn am meisten. Sie waren so weit gekommen, und jetzt konnten sie den Rest des Weges auch noch schaffen.
Donna sagte: »Ich glaube wirklich, es gibt nichts, was schrecklicher wäre, als jemanden oder etwas – ein lebendes Geschöpf zu opfern, ohne daß dieses Geschöpf jemals erfährt, was mit ihm geschieht. Wenn er es nur wüßte! Wenn er es nur verstehen würde und sich freiwillig zur Verfügung stellen würde. Aber –« Sie hob resignierend die Hände. »Er weiß es nicht; er hat es nie gewußt. Er hat sich nicht freiwillig –«
»Natürlich hat er das. Es gehört zu seinem Job.«
»Es ist ihm nie zu Bewußtsein gekommen, und auch jetzt ist es ihm noch nicht bewußt, weil er jetzt überhaupt kein aktives Bewußtsein mehr hat. Sie wissen das genausogut wie ich. Und er wird nie wieder in seinem Leben, nie wieder, solange er lebt, ein aktives Bewußtsein haben. Nur noch Reflexe. Und das war kein Betriebsunfall; es sollte passieren. Darum lastet ein schlechtes Karma auf uns. Ich spüre es auf meinem Rücken. Wie ein Leichnam. Ich trage einen Leichnam mit mir herum –Bob Arctors Leichnam. Auch wenn er klinisch gesehen noch lebt.« Ihre Stimme war laut geworden; Mike Westaway bedeutete ihr, sich zu mäßigen, und mit sichtlicher Anstrengung zwang sie sich wieder zur Ruhe. Von den anderen Holztischen hatten schon andere Gäste, die dort genußvoll ihre Hamburger und Shakes verzehrten, fragend herübergeblickt.
Nach einer Pause sagte Westaway: »Betrachten Sie es doch einmal unter diesem Aspekt – man kann nicht etwas … jemanden verhören, der keinen Verstand hat.«
»Ich muß zurück zur Arbeit«, sagte Donna. Sie schaute auf die Armbanduhr. »Ich werde ihnen berichten, daß alles okay zu sein scheint, wenn man von dem ausgeht, was Sie mir erzählt haben. Ihrer Einschätzung nach.«
»Warten Sie bis zum Winter«, sagte Westaway.
»Winter?«
»Bis dahin wird es dauern. Fragen Sie nicht, warum, aber so ist es nun mal; entweder wird es im Winter klappen, oder es läuft überhaupt nicht. Wir werden es dann schaffen oder nie.« Genau zur Sonnenwende, dachte er.
»Ein angemessener Zeitpunkt. Dann, wenn alles tot ist und unter dem Schnee begraben.«
Er lachte. »In Kalifornien?«
»Der Winter der Seele. Mors ontologica. Wenn der Geist tot ist.«
»Nur am Schlafen«, sagte Westaway. Er erhob sich. »Ich muß auch abhauen. Ich muß eine Fuhre Gemüse abholen.«
Donna starrte ihn mit einem Blick an, in dem zugleich stumme Trauer, Schmerz und Bestürzung lagen.
»Für die Küche«, sagte Westaway sanft. »Möhren und Salat. Richtiges Gemüse. Gespendet von McCoy’s Supermarkt, für uns Arme vom Neuen Pfad. Tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Es sollte kein Witz sein. Es sollte überhaupt nichts bedeuten.« Er tätschelte ihre in Leder gehüllte Schulter. Und als er das tat, kam ihm auf einmal der Gedanke, daß vielleicht Bob Arctor diese Jacke als Geschenk für sie gekauft hatte – in besseren, glücklicheren Tagen.
»Wir arbeiten schon lange in dieser Angelegenheit zusammen«, sagte Donna in gedämpftem, ruhigem Tonfall. »Ich möchte nicht mehr viel länger daran arbeiten. Ich wünsche mir, daß das endlich aufhört. Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, denke ich mir: Scheiße, wir sind kälter als sie. Als der Gegner.«
»Ich sehe nichts Kaltes, wenn ich Sie anschaue«, sagte Westaway. »Aber natürlich kenne ich Sie eigentlich nicht sehr genau. Was ich allerdings sehe – und ich glaube nicht, daß ich mich täusche –, ist einer der warmherzigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. «
»Ich bin nach außen hin warm, und die Leute können nur die Außenseite sehen. Warme Augen, ein warmes Gesicht, ein warmes, vorgetäuschtes Scheiß-Lächeln, aber innendrin bin ich die ganze Zeit über kalt und voller Lügen. Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine; in Wirklichkeit bin ich schrecklich.« Die Stimme des Mädchens blieb ruhig, und während sie sprach, lächelte sie. Ihre Pupillen waren groß und sanft und ohne Arglist. »Aber dann wieder sage ich mir, daß es nicht anders geht. Oder? Ich habe das vor langer Zeit begriffen und mich gezielt so gemacht, wie ich jetzt bin. Aber eigentlich ist das gar nicht so schlecht. Auf diese Weise bekommt man alles, was man will. Und bis zu einem gewissen Grad ist jeder so. Nur eines an mir ist tatsächlich schlimm – ich bin ein Lügner. Ich habe meinen Freund angelogen. Ich habe Bob Arctor die ganze Zeit über belogen. Ich habe ihm sogar einmal gesagt, er solle bloß nichts von dem glauben, was ich sagte, aber natürlich hat er gedacht, ich würde nur scherzen; er hat nicht auf mich gehört. Aber nachdem ich es ihm einmal gesagt habe, lag es doch nur noch an ihm, ob er von da an noch auf mich hören und mir glauben wollte oder nicht. Ich habe ihn gewarnt. Aber er hat das, was ich ihm gesagt habe, sofort wieder vergessen und einfach weitergemacht. Ist einfach auf seinem Weg weitergegangen, ohne nach rechts oder links zu schauen.«