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Denn genau das ist es ja, was er oder es nicht mehr kann: Diese Kreatur neben mir ist gestorben und kann darum niemals wieder wachsen. Es kann nur nach und nach immer mehr verfallen, bis das, was übrigbleibt, auch tot ist. Und dann karren wir das weg.

Jemand, der tot ist, dachte Mike, hat keine große Zukunft mehr. Für gewöhnlich hat er nur noch seine Vergangenheit.

Und für Arctor-Fred-Bruce gibt es nicht einmal mehr die Vergangenheit, sondern nur noch den gegenwärtigen Augenblick.

Neben Mike, auf dem Beifahrersitz des von ihm gesteuerten hauseigenen Wagens, hüpfte die eingefallene Gestalt auf und ab. Das Rütteln des Wagens übertrug sich auf sie, setzte sie in Bewegung.

Ich möchte zu gerne wissen, dachte Mike, ob es wirklich der Neue Pfad war, der ihm das angetan hat. Der einen Stoff in die Welt hinausgeschickt hat, um ihn zu dem zu machen, was er jetzt ist. Um ihn in diesen Zustand zu versetzen, damit sie ihn schließlich wieder bei sich aufnehmen konnten.

Und um auf diese Weise, dachte er, inmitten des Chaos eine Zivilisation nach ihrem Bilde aufzubauen. Wenn man wirklich von einer »Zivilisation« sprechen kann.

Er wußte es nicht. Er war noch nicht lange genug beim Neuen Pfad gewesen; ihre Ziele, so hatte der Direktor ihn einmal belehrt, würde er erst erfahren dürfen, wenn er für weitere zwei Jahre dem Mitarbeiterstab angehört hatte.

Jene Ziele, hatte der Direktor gesagt, hatten nichts mit der Rehabilitation von Drogensüchtigen zu tun.

Niemand außer Donald, dem Direktor, wußte, wo die Gelder herkamen, mit denen sich der Neue Pfad finanzierte. Aber es war immer genügend Geld da. Tja, dachte Mike, man kann schon eine schöne Stange Geld machen, wenn man Substanz T herstellt. Draußen auf verschiedenen ländlichen Farmen in abgeschiedener Lage, in kleinen Läden, in diversen Institutionen, die unter dem Etikett »Schulen« liefen. Herstellung, dann Verteilung und schließlich Verkauf. Profite allerorten. Sie reichten bestimmt dafür, daß der Neue Pfad solvent blieb und weiter gedeihen konnte – und wahrscheinlich sogar für mehr. Für eine ganze Reihe von Endzielen.

Die sich daraus bestimmten, was der Neue Pfad eigentlich vorhatte.

Er wußte etwas – die für die Eindämmung des Drogenhandels zuständige Regierungsstelle wußte etwas –, von dem der größte Teil der Öffentlichkeit, ja selbst die Polizei, keine Ahnung hatte.

Wie Heroin war auch Substanz T organisch und keineswegs ein Laborprodukt.

Und darum war es nicht ohne Doppelsinn, wenn er, wie so oft, nun dachte, daß all diese Profite dazu beitrugen, den Neuen Pfad gut bei Kasse zu halten und ihn gedeihen zu lassen.

Die Lebenden, dachte er, sollten nie dazu benutzt werden, den Absichten der Toten zu dienen. Aber die Toten – er warf einen flüchtigen Blick auf Bruce, die leere Hülle neben ihm – sollten, wenn möglich, den Absichten der Lebenden dienen.

Das, überlegte er, ist das Gesetz des Lebens.

Und wenn die Toten überhaupt noch etwas fühlen konnten, dann mochten sie sich vielleicht besser fühlen, wenn sie das taten.

Die Toten, dachte Mike, die immer noch sehen können, selbst wenn sie nichts mehr begreifen: Sie sind unsere Kamera.

XVI

Unter dem Ausguß in der Küche, bei den Seifenkisten und Bürsten und Eimern, fand er ein kleines Knochenstückchen. Es sah irgendwie menschlich aus, und er fragte sich, ob das Jerry Fabin sein mochte.

Dieser Fund weckte in ihm die Erinnerung an ein Ereignis, das schon sehr lange zurückliegen mußte. Einmal hatte er mit zwei anderen Typen zusammengewohnt, und manchmal hatten sie im Scherz behauptet, eine Ratte namens Fred zu besitzen, die unter dem Ausguß lebte. Und als sie einmal total pleite gewesen waren, so pflegten sie ihren Bekannten zu erzählen, hatten sie den armen alten Fred aufgegessen.

Vielleicht war das hier einer der Knochen jener Ratte, die unter dem Ausguß gehaust hatte. Die sie erfunden hatten, damit sie nicht so allein waren.

*

Die Gespräche im Gemeinschaftsraum.

»Dieser Typ war noch ausgeflippter, als er nach außen hin wirkte. Ich spürte das. Eines Tages fuhr er hinauf nach Ventura und kurvte überall rum, um einen alten Freund zu suchen, der landeinwärts in Richtung Ojai wohnte. Er erkannte das Haus, ohne nach der Nummer zu sehen, hielt an und fragte die Leute, ob er mit Leo sprechen könne. ›Leo ist schon tot. Tut mir leid, daß Sie das nicht wußten.‹ Und darauf sagt dieser Typ zu ihnen: ›Okay, dann komme ich eben nächsten Donnerstag noch mal wieder.‹ Und er fuhr weg, fuhr zurück die Küste runter, und ich schätze, daß er am Donnerstag wieder raufgefahren ist, um Leo zu suchen. Wie findet ihr das?«

Er hörte ihrer Unterhaltung zu und trank dabei seinen Kaffee.

»– es funktioniert echt, das Telefonbuch, in dem nur eine einzige Nummer drinsteht; egal, wen man sprechen will, man wählt immer diese eine Nummer. Seite um Seite immer nur die gleiche Nummer … ich sprech’ natürlich von ‘ner total ausgeflippten Gesellschaft. Und in deiner Brieftasche hast du diese Nummer auch, die Nummer, hingekritzelt auf Zettel und Karten, für verschiedene Leute. Und wenn du die Nummer vergißt, dann könntest du niemanden mehr anrufen.«

»Du könntest die Auskunft anrufen.«

»Die hat dieselbe Nummer.«

Er hörte immer noch zu; er fand den Ort, den sie da beschrieben, sehr interessant. Wenn man anrief, hörte man vielleicht »Kein Anschluß unter dieser Nummer«, oder jemand meldete sich und sagte: »Tut mir leid, Sie sind falsch verbunden. Haben Sie vielleicht die falsche Nummer gewählt?« Und darum rief man noch mal an, wählte einfach wieder dieselbe Nummer, und diesmal war die Person dran, die man sprechen wollte.

Wenn man zum Arzt ging – es gab nur einen, und der war Spezialist für alles –, dann gab es nur eine Medizin. Nachdem der Arzt einen untersucht hatte, pflegte er immer diese Medizin zu verschreiben. Man brachte das Rezept zur Apotheke, um es dort einzulösen, aber der Apotheker konnte nie lesen, was der Doktor geschrieben hatte, und darum gab er einem die einzige Pille, die er hatte, nämlich Aspirin. Und das half immer, ganz egal, was man hatte.

Wenn man gegen das Gesetz verstieß, dann immer nur gegen das eine Gesetz, gegen das alle wieder und wieder verstießen. Der Bulle schrieb alles sorgfältig auf: welches Gesetz, welcher Verstoß. Jedesmal. Und auf jede Gesetzesverletzung, von der Verkehrsgefährdung bis hin zum Verrat, stand immer dieselbe Strafe, und das war die Todesstrafe. Es gab zwar Bemühungen, die Todesstrafe abzuschaffen, aber dazu durfte es letztlich doch nicht kommen, weil es dann ja zum Beispiel für Verkehrsgefährdung überhaupt keine Strafe mehr gegeben hätte. Also blieb man bei der alten Regelung, und das Volk zehrte sich von innen heraus aus und starb. Aber eigentlich konnte man in diesem Fall wohl doch nicht von »Sterben« sprechen – die Bürger waren schon vorher tot gewesen. Sie verblaßten einfach nur ein bißchen mehr, wenn sie das Gesetz brachen, einer nach dem anderen, und lösten sich dann am Ende nur irgendwie endgültig auf.

Er dachte: Und wenn die Leute dann hören, daß der letzte von ihnen verschwunden ist, werden sie bestimmt sagen, ›Möchte ja zu gerne wissen, was das eigentlich für Menschen waren. Hm – tja, am besten kommen wir am Donnerstag noch mal wieder.‹ Obwohl er sich nicht sicher war, lachte er, und als er seine Geschichte laut erzählte, lachten auch alle anderen im Aufenthaltsraum.

»Sehr gut, Bruce«, sagten sie.