»Wen haben wir denn da?« meinte der Mann in der grauen Südstaatenuniform mit hochgezogenen Brauen. »Den Verräter!«
»Ich bin kein Verräter, sondern ein Kundschafter. Ich habe schon immer für die Sache des Nordens gekämpft.«
»Wie es aussieht, werdet ihr alle jetzt für die Sache des Nordens sterben«, erwiderte Quantrill, der nicht aus der Ruhe zu bringen war.
Die Männer oben im Haus spürten, daß er noch einen Trumpf auszuspielen hatte - mindestens einen. Die selbstgefällige Überlegenheit, mit der Quantrill auftrat, konnte nicht allein von der Macht seiner Männer und Waffen stammen. Da war noch etwas, eine unliebsame Überraschung, die der Guerillaführer für die letzten Verteidiger von Blue Springs bereithielt. Das lag so schwer und deutlich wahrnehmbar in der Luft wie die warme Feuchtigkeit des Sommerregens, der viele Tage lang auf das Land niedergegangen war.
»Dabei nehmen wir aber noch eine Menge von euch mit«, entgegnete Hickok. »Vielleicht euch alle!«
»Woher dieser Übermut?« wollte Quantrill wissen. »Etwa, weil ihr auf das Eintreffen von Hilfe wartet?«
Hickok kniff skeptisch die Augen zusammen, so daß er noch mehr wie ein Raubvogel aussah. Und Quantrill war die Beute, auf die er hinabblickte, die er fixierte, um sich im nächsten Augenblick auf sie zu stürzen. Wenn es ihm nur möglich gewesen wäre.
»Was für Hilfe?« stellte der Scout die Gegenfrage.
»Truppen aus Kansas City beispielsweise«, antwortete Quantrill mit gespielter Gleichgültigkeit. Aber man merkte ihm an, daß er sich insgeheim diebisch über etwas freute.
»Wie kommen Sie darauf?« fragte Byron Cordwainer. »Sie haben unseren Kurier doch erwischt - und ermordet!«
»Welchen Kurier meinen Sie?« fragte Quantrill mit Unschuldsmiene zurück. »Den Burschen, der den Schecken geritten hat?« Er wandte sich nach hinten. »Oder diesen hier?«
Aus einer schmalen Gasse trat ein Mann mit grausam wirkenden Gesicht, der einen Braunen am Zügel führte. Über dem Pferd lag der Körper eines Mannes, der sich nicht bewegte. Die Männer oben im Haus konnten nicht sagen, ob er tot war.
Hickok erkannte ihn sofort. Jetzt wußte er, wie Quantrills geheimer Trumpf aussah. Deshalb hatte sich der Guerillaführer die ganze Zeit über so diebisch gefreut. Er hatte mit seinen Gegnern gespielt wie eine Katze mit der in die Enge getriebenen Maus, der sie die Illusion ließ, noch eine Chance zu haben, bloß um sich an ihren aussichtslosen Rettungsversuchen zu weiden. Quantrill hatte gewußt, daß die Leute im Cordwainer-Haus auf Hilfe aus Kansas City warteten. Und er hatte auch gewußt, daß diese Hilfe niemals eintreffen würde, weil er den Kurier abgefangen hatte.
Nur abgefangen?
Oder auch getötet wie Gus Peterson, den ersten Kurier?
»Cody!« stieß Hickok hervor und dachte an seinen jungen Freund und all die Pläne, die er gehabt hatte.
Byron Cordwainer sah Hickok erschrocken an. »Das da unten ist Ihr Freund, der nach Kansas City.«
»Ja«, unterbrach ihn der Kundschafter. »Kein Zweifel.« Er hob seine Stimme und fragte: »Habt ihr ihn auch getötet?«
Quantrill sah den Mann mit den grausamen Gesichtszügen fragend an. Jasper schüttelte den Kopf.
»Er lebt noch«, antwortete Quantrill. »Aber nicht mehr lange, wenn er nicht schnell ärztliche Hilfe erhält. Der Doc ist doch bei euch, oder?«
»Das ist er«, bestätigte Hickok. »Schätze, eine Menge Ihrer Leute haben seine Hilfe ebenfalls nötig. Auf der Basis müßte sich verhandeln lassen.«
Quantrill schüttelte entschieden den Kopf. »Ihr habt uns nicht genug zu bieten, um zu verhandeln.«
»Wir haben den Arzt«, beharrte Hickok.
»Und wir haben die hier.«
Wieder gab der Guerilla-Captain den hinter ihm versteckten Männern ein Zeichen, und sie führten zwei gefesselte Gefangene auf den freien Platz vor dem Haus. Beide waren übel zugerichtet und bluteten aus mehreren Wunden, Einer der Männer war jung, großgewachsen und schlank, der andere alt, klein und grauhaarig.
»Ellery und Lawrence«, flüsterte Byron Cordwainer.
»Wer ist das?« erkundigte sich Hickok.
»Mein Bruder Ellery und mein Schwiegervater Armstrong Lawrence.«
Quantrill holte eine goldene Taschenuhr aus seiner Westentasche, klappte gemächlich den Deckel auf und warf einen Blick auf das Zifferblatt, bevor er wieder zu Hickok und dem Major hochsah.
»Ihr habt von jetzt an noch genau fünf Minuten, um das Haus zu räumen. Wenn das nicht geschieht, lasse ich einen der Männer hier töten. Vielleicht den Bankier, dessen Tresor jetzt leer ist. Vielleicht Ihren Bruder, Major. Vielleicht aber auch den Burschen hier, in dem eh nicht mehr viel Leben steckt.« Quantrill sah kurz auf Codys reglosen Körper. »Die Reihenfolge werde ich mir noch überlegen. Danach wird alle fünf Minuten einer der Männer sterben, bis das Haus leer ist. Das ist kein Scherz!«
Er klappte den Deckel der Uhr wieder zu, verstaute das goldene Kleinod in seiner Westentasche, wendete sein Pferd und ritt gemächlich in die schmale Gasse hinein, die direkt auf den Platz vor dem Cordwainer-Haus mündete. Der Flaggenreiter, Jasper mit dem Braunen und Cody sowie die Männer mit den Gefangenen folgten ihm.
Hickok und Byron Cordwainer gingen wieder in Deckung.
»Sie kennen Quantrill«, sagte der Major zu dem Kundschafter. »Was halten Sie von seinem Ultimatum?«
Hickoks Gesicht war ernst. »Er hat bestimmt nicht geblufft. Quantrill ist so gnadenlos wie eine Klapperschlange. Und genauso gefährlich.«
Averill Cordwainer sah seinen Sohn flehend an. »Byron, du mußt auf seine Bedingungen eingehen! Sonst tötet er Ellery!« »Was für Bedingungen?« fragte der Major. »Quantrill verlangt von uns die bedingungslose Kapitulation. Darauf lasse ich mich nicht ein, niemals! Es muß einen Weg geben, den verfluchten Buschräubern zu entkommen. Vielleicht, wenn es dunkel ist.«
»Du willst Ellery sterben lassen?« fragte der alte Cordwainer entsetzt.
»Und Ihren Schwiegervater?« fügte Hickok hinzu. »Und Cody, der sein Leben für uns alle aufs Spiel gesetzt hat?«
Byron Cordwainers Züge verhärteten sich. »Es muß sein! Andernfalls sterben wir alle!«
»Das ist nicht unbedingt gesagt«, widersprach Hickok. »Zwar ist Quantrill grundsätzlich nicht zu trauen. Aber er hat seine Launen im Schlechten wie im Guten. Wenn wir Glück haben, fühlt er sich an sein Versprechen gebunden und verschont uns - und die Frauen.«
»Und wenn wir Pech haben?« fragte Byron Cordwainer skeptisch.
»Dann sterben wir«, antwortete der Scout in einem Tonfall, als habe er nur verkündet, draußen zögen Wolken auf.
»Nein!« stieß der Mann in der Offiziersuniform zwischen seinen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Niemals!« Er griff nach seinem Karabiner und wollte ihn auf dem Fensterbrett in Anschlag bringen.
Hickok riß ihn zurück. »Was haben Sie vor, Mann?«
In Byron Cordwainers tiefliegenden Augen flackerte wilde Entschlossenheit auf, die an Wahnsinn grenzte. »Quantrill die einzige Antwort geben, die ihm gebührt!«
»Das werden Sie nicht tun!« sagte der Kundschafter.
»Doch, das werde ich!« Blitzschnell riß der Major den Karabiner hoch und richtete ihn auf Hickok. »Und Sie werden mich nicht daran hindern!«
Ein Schuß krachte. Die Detonation hallte laut im Zimmer wider.
Byron Cordwainer schrie auf und sah erschrocken auf seine blutende Rechte.
Hickok war mit einem Sprung bei ihm, riß ihm die Waffe aus der Hand und sah zu Martin hinüber, der seinen rauchenden Revolver in der Linken hielt und ihn auf den rechten Unterarm gestützt hatte. »Danke, Freund. Sie sind ein verflucht guter Schütze.«
Der Deutsche grinste ein wenig verlegen. »Aber nur bei einem unter hundert Schüssen.«